Demokratieverständnis

"Schwindler und Wortbrüchige"

Der Publizist und Schriftsteller Thomas Rietzschel 2012 zu Gast auf der Buchmesse in Leipzig.
Der Publizist und Schriftsteller Thomas Rietzschel. © picture alliance / dpa / Arno Burgi
Moderation: Ulrike Timm · 01.05.2014
Die 1. Mai-Kundgebungen als fernes Ritual: Denn die Politikerkaste schotte sich immer mehr ab, so Thomas Rietzschel. Machtkartelle in westlichen Demokratien hätten die Politik zu ihrer Sache gemacht - vorbei an allen Bürgern. Immerhin gebe es neue Bewegungen, die sich nicht mehr durchregieren lassen wollen.
Die Gewerkschaftskundgebungen am 1. Mai werden immer schwächer besucht, sie wirken fast wie ein fernes Ritual. Längst sind "die da unten" nicht mehr die internationale Arbeiterklasse, sondern – glaubt man dem Publizisten Thomas Rietzschel – vielmehr alle Bürger. "Die da oben", das sind die Machtkartelle in den westlichen Demokratien, nicht mehr die Bonzen des Kapitals: "Schwindler und Wortbrüchige, Versager und Aufschneider, schlichte Dummköpfe und verschlagene Zyniker, Verklemmte und Gehemmte", so Rietzschel in seinem Buch "Geplünderte Demokratie".
Darin übt Rietzschel eine vernichtende Analyse unseres heutigen Staatswesens. "Die politische Klasse hat sich zur Kaste gewandelt", sagte Thomas Rietzschel im Deutschlandradio Kultur. Politikern seien nicht mehr in der Gesellschaft verankert und damit auch keine "Volksvertreter" mehr. Die Möglichkeiten der Demokratie würden allein genutzt, um einen politischen Betrieb aufzubauen, der um seiner selbst Willen existiere.
Bürger werden durchregiert
Nur im Moment der Wahlen gebe es eine große Zuneigung. Allerdings: "Wahlversprechen sind eine Verhöhnung des Volkes, denn die Politik hat nichts zu versprechen und nichts zu verteilen. Was sie uns als Wahlgeschenke in die rechte Tasche stecken, nimmt sie uns aus der linken heraus." Und nach den Wahlen werde "plötzlich die Meinung oder die Willensbildung des Volkes, das, was das Volk denkt, als Populismus, also als Stammtischgerede abgetan. Und da kann ich nur sagen, da plündert jemand die Demokratie. Da entwickelt sich so etwas wie die Arroganz der Macht, die sich darin äußert, dass wir einerseits betüttelt und versorgt werden, und andererseits durchregiert." Der Wähler allerdings lasse sich das auch gefallen.
Hoffnung auf Veränderung zeige sich in Gruppierungen wie die der Piraten oder der AfD oder auch in der Existenz der Wutbürger.
"Die Demokratie wird sich von unten her erneuern"
"Das ist die neue APO. Ich denke, wir bekommen eine neue Position und ein neues Kräfteverhältnis in der Demokratie. Da, wo es sie unmittelbar angeht, wollen die Bürger über ihre Dinge wieder selbst bestimmen und sich nicht durchregieren lassen. Beispiel Stuttgart 21, der Bahnhof, der da gebaut wird, die Bürger stehen auf dagegen. Und plötzlich wird aus einem Aufstand gegen das Fällen einiger Bäume eine Demonstration für eine Revitalisierung der Demokratie. Die Demokratie wird sich von unten her erneuern."
Doch traut er dem Bürger das tatsächlich zu? "Seit Adenauer die lohnbezogene Rente eingeführt hat, verschachert er seine Stimme oder gibt seine Stimme für materielle Versprechen hin. Das ist die verkommene Demokratie der Wohlstandsgesellschaft und der Konsumgesellschaft." Dennoch entstünden am Rande eben neue Bewegungen, da einzelnen bewusst werden, dass sie sich so nicht abfertigen lassen wollen.

Thomas Rietzschel: Geplünderte Demokratie. Die Geschäfte des politischen Kartells
Paul Zsolnay Verlag, München 2014
192 Seiten, 16,90 Euro

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