Demokratie

Warnung vor dem "elektronischen Faschismus"

Facebook-Anmeldemaske auf einem Smartphone, während auf dem Bildschirm im Hintergrund die Startseite für den Kurznachrichtendienst Twitter zu sehen ist.
"Das Wort 'sozial' verschwindet in der historischen Versenkung, es ist zum Synonym für 'Soziale Netzwerke' geworden", befürchtet de Saint Victor. © dpa / picture alliance / Uwe Zuchhi
Von Marko Martin · 13.04.2015
Die Müdigkeit gegenüber abgehalfterten Altparteien - so berechtigt sie sein mag - führt mitnichten zu einer besseren Politik, sondern schadet der Demokratie, das ist die These des französischen Intellektuellen Jacques de Saint Victor. Denn nur wenige werden durch die "digitale Revolution" vertreten. Ein schmales, aber gewichtiges Büchlein.
"Wir lassen uns nicht einschüchtern von gewissen jungen Leuten", schrieb im Jahre 1932 der damals berühmte Publizist Benno Reifenberg in der "Frankfurter Zeitung", wobei hier die Generationenkarte gespielt wurde. "Alt" war, wer auf herkömmlichen, repräsentativen Demokratiemodellen bestand, "jung" dagegen, wer dem "pulsierenden Blut der Volksgemeinschaft" folgte.
Wiederholt sich nun die Geschichte, wenn der französische Intellektuelle Jacques de Saint Victor vor einem gegenwärtigen "elektronischen Faschismus" warnt? Sein Essay "Die Antipolitischen" ist kein schrilles Pamphlet. Gerade deshalb ist die Lektüre dieses schmalen, aber gewichtigen Büchleins denkbar ungemütlich, stellt es sich doch die Frage: Was geschieht, wenn alle paar Jahrzehnte das Ende der parlamentarischen Demokratie ausgerufen und der Kult des "Spontanen" zelebriert wird? Die Antwort lautet: "Eine Mischung aus Pfadfindertum und Machbarkeitswahn".
Anhand der internetaffinen "Bürgerbewegung Fünf Sterne", geführt vom autoritären italienischen Komiker Beppe Grillo, zeigt der Autor, was die (berechtigte) Müdigkeit gegenüber abgehalfterten Altparteien gebiert: Neue Formationen, nicht weniger machtgierig, dafür aber umso schwerer kontrollierbar, da nicht integriert in traditionelle Institutionen. Den populistischen Heilsansprüchen im täglichen "Mausklick" misstraut der französische Rechtsprofessor dabei ebenso wie der neuen Religion der "totalen Transparenz".
Er hält nichts von der Schwarmintelligenz
Für ihn ist letztere ein gigantisches Ablenkungsmanöver: Wenn die wirklichen Entscheidungen nach wie vor im Halbdunkel ökonomischer Macht getroffen werden, führe das Phantasma vom "gläsernen Politiker" lediglich in die Irre und suggeriere dem Bürger ein angeblich neues Wissen, das sich freilich erschöpft in Info-Häppchen. Ganz altmodisch gesagt: Der in Paris und Rom lehrende Jacques de Saint Victor wittert hier zwar einen "Verblendungszusammenhang", doch hütet er sich vor kulturpessimistischen Verschwörungstheorien.
Als sozialliberaler Intellektueller hält er nichts vom Kult um die "Schwarmintelligenz", da diese vor allem im Internet entkörperlicht und somit auch von jeder konkreten Verantwortung frei sei. Hier zeige sich das gegenwärtige "Transparenz"-Gebot vor allem als nützlich für Unternehmer, die damit (fast) alles über uns Konsumenten erfahren - und: "Das Wort 'sozial' verschwindet in der historischen Versenkung, es ist zum Synonym für 'Soziale Netzwerke' geworden. Jedenfalls wissen jetzt alle Nicht-Vernetzten, alle Stiefkinder der schnöden Realität, woran sie sind. Sie werden durch die neue 'digitale Revolution' nicht vertreten."
Gegen die Herabwürdigung des Politischen, die Negierung des Sozialen und die Präferenz von Twitter-Sprüchen vertraut dieses Buch - geradezu furchtlos - auf die altehrwürdige Tradition des besseren Arguments. Bleibt zu hoffen, dass einige der Klügeren in der Schar der tonangebenden Nerds und Hipster von der Existenz dieses Essays erfahren. Zumindest könnten sie die Inhaltsangabe ergoogeln und liken.

Jacques de Saint Victor: Die Antipolitischen. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt
Hamburger Edition, Hamburg 2015
111 Seiten, 12,00 Euro