Demokratie oder autoritäre Herrschaft

Der entgeisterte Weltgeist

Eine Büste des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) steht vor dem Hauptgebäude der Friedrich Schiller-Universität Jena, aufgenommen am 15.03.2006.
Büste des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) vor dem Hauptgebäude der Friedrich Schiller-Universität Jena © picture-alliance / dpa / Jan-Peter Kasper
Von Florian Goldberg · 30.12.2016
"Was vernünftig ist, ist wirklich, und was wirklich ist, ist auch vernünftig." Hegel sah in der Geschichte einen Weltgeist der reinen Vernunft wirken. Das Jahr 2016 wirkte allerdings eher so, als müsse selbst der Weltgeist über die Geschehnisse entgeistert sein.
Mein Vater war ein überzeugter Europäer. Früh prangte auf jedem seiner Autos ein stolz glänzendes Europa-Emblem neben dem obligatorischen D. Im jugendlichen Alter dazu verdammt, über die Schlachtfelder des Kontinents zu stolpern, wollte er jene buchstäblichen Gräben überwinden, in denen so viele Menschen seiner Generation den Tod gefunden hatten. Europa war ihm ein Friedensprojekt. Ein historisch einmaliger Versuch, Konflikte durch Gespräche und Kompromisse zu lösen. Ein langsames, umständliches, oft nervtötendes Verfahren. Aber eines, bei dem kein Blut fließt.
Als mein Vater in den späten 90er Jahren starb, führte der Balkan gerade noch einmal die Alternative vor. Er beschloss sein Leben in der Hoffnung, dass zumindest die europäischen Kernstaaten, insbesondere Deutschland, die historische Lektion ein für allemal gelernt hätten.

Gegen die Ignoranz der Wenigen

Aber Staaten lernen ebensowenig wie die Menschheit als solche. Dialektik der Geschichte? Weltgeist? Ein Unsinn! Einzelne Menschen lernen oder sie lassen es bleiben.
Demokratien haben anderen Staatsformen mit der Gewaltenteilung immerhin voraus, dass die Ignoranz einiger Weniger die duldsame Mehrheit nicht so einfach in Katastrophen treiben kann, die am Ende niemand gewollt hat. Dagegen stehen Institutionen wie unabhängige Gerichtsbarkeit und Pressefreiheit. Aber auch das geht nur so lange gut, wie nicht zu viele Einzelne diesen unschätzbaren Wert ihrer Staatsform mit den Annehmlichkeiten verwechseln, die sie in ruhigen Zeiten bietet.
Demokratie braucht mündige Bürger. Vor allem dies unterscheidet sie von autoritärer Herrschaft.

Freier Mensch in freier Gesellschaft

Mündigkeit meint das innere wie äußere Vermögen zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Dabei geht es um weit mehr, als sich nur des eigenen Verstandes zu bedienen. Ich muss auch mit meinen Ängsten und Befürchtungen, mit meinem Neid und meiner Gier so weit in Kontakt zu sein, dass sie mir mit dem Herzen nicht den Verstand eintrüben. Auf Basis solcher Selbst-Aufklärung gilt es zu handeln. Als freier Mensch in einer freien Gesellschaft. Kein Zustand. Ein Prozess. Mühsam, von Irrtümern und Fehlschlägen begleitet, oft frustrierend, aber letztlich bereichernd. Ohne mein fortgesetztes Bemühen als Einzelner wird Demokratie zu einer leeren Hülle, die irgendwann von Demagogen für sinistre Zwecke gekapert oder von Fanatikern zertrümmert wird.
Das vergangene Jahr hat uns eine Ahnung vermittelt, wie schnell dies geschehen kann. Die Beispiele sind hinlänglich bekannt. Vieles spricht also dafür, dass 2017 nicht leicht wird.

Krisis heißt Entscheidung

Wie kann ich dem als Einzelner begegnen? Vielleicht, indem ich die allseits beschworene Krise nicht länger alarmistisch, sondern im Sinn ihrer altgriechischen Wurzel begreife. Krisis heißt Entscheidung! So stehe ich nicht paralysiert vor der nahen Katastrophe, sondern in einer geschichtlichen Situation, die mir klare Entscheidungen abverlangt.
Zunächst und grundsätzlich für die Werte, die unser Land in den letzten 70 Jahren so frei, friedlich und erfolgreich gemacht haben, wie niemals zuvor. Darunter Toleranz, Offenheit, Humanität.
Seit Beginn der so genannten "Flüchtlingskrise" haben viele Menschen diese Entscheidung getroffen und in die erstaunlichsten Initiativen übersetzt. Allen Widrigkeiten zum Trotz sorgen sie seither für Orientierung und neue Perspektiven. Für uns alle, nicht nur die Neuankömmlinge.
Es ist längst nicht vorbei. Auch im neuen Jahr wird es darum gehen, unsere liberale Gesellschaft durch konstruktive Aktionen stolz zu behaupten und weiter zu entwickeln.
Das wird auch gelingen, da bleibe ich zuversichtlich. Allein schon, weil ein Rückfall in den ängstlich-aggressiven Habitus geschlossener Gesellschaften eine gar zu blamable Alternative für Deutschland wäre.

Florian Goldberg hat in Tübingen und Köln, Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht.


Florian Goldberg
© Hernando Tascon
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