Demokratie in Großbritannien

Ohne Netz und doppelten Boden

"We love British - Great British Produce" steht auf einem Karton.
Das britische Parlament hat alle Freiheiten, während in der deutschen Politik Sicherungen eingebaut sind – als Ausdruck des Misstrauens. Ein Referendum wie jetzt zur EU gilt in Deutschland als zu viel riskant © Lukas Schulze, dpa picture-alliance
Von Friedbert Meurer · 21.06.2016
Es ist die spezifische Architektur der britischen Demokratie, die ein Referendum wie das um den Brexit überhaupt erst ermöglicht - denn im Vergleich zur deutschen setzt sie viel Vertrauen in Wähler und Parlament.
Die Fanfaren schmettern im House of Lords zur Eröffnungszeremonie im Parlament von Westminster. An diesem Tag sind Krone, Oberhaus und Unterhaus gleichzeitig versammelt. Seit Jahrhunderten basiert die Demokratie im Vereinigten Königreich auf diesen Institutionen und offenbar auch Ritualen. Eine Verfassung sucht man vergebens.
"Es gibt eine verfassungsrechtliche Grundlage, aber nicht in der Art und Weise wie in Deutschland", analysiert Damian Chalmers, Professor für europäisches Recht an der London School of Economics. "Es gibt kein Grundgesetz, das in Deutschland fast sakrosankt ist. Zentral für die Briten ist die Idee von der Souveränität des Parlaments."
Das britische Parlament ist souverän, mehr als in Deutschland. Es gibt zwar eine zweite Kammer, das House of Lords, aber das kann – anders als zum Beispiel der Bundesrat, Entscheidungen des Unterhauses allenfalls aufschieben. Niemand darf die Souveränität des Unterhauses in Frage stellen, auch kein Verfassungsgericht – das gibt es auch gar nicht.

Eine andere Geschichte als Deutschland

"Es gibt hier weniger an Einmischung in die Entscheidungen des Parlaments als in Deutschland. Entscheidungen der britischen Regierung wurden zwar schon von einfachen Gerichten gestoppt, zum Beispiel bei den Themen Einwanderung und Wohnungspolitik. Aber es gab nur selten richterliche Entscheidungen gegen ein Gesetz."
Big Ben, die Uhr des Parlamentsglockenturms, gibt den Takt vor. Das britische Parlament hat alle Freiheiten, während in der deutschen Politik Sicherungen eingebaut sind – als Ausdruck des Misstrauens. Ein Referendum wie jetzt zur EU gilt in Deutschland als zu riskant. In Großbritannien aber gibt es noch nicht einmal ein Quorum. Das Unterhaus kann ausnahmslos jedes Gesetz mit einfacher Mehrheit kippen.
"Das Vereinigte Königreich hat eine andere Geschichte als Deutschland", sagt Verfassungsrechtler Damian Chalmers zur Begründung. "Das Parlament hat Vorrang. Wir reden auch mehr über Demokratie und weniger über Verfassung. In Deutschland haben wir eben eine verfassungsrechtliche Demokratie. Das Vereinigte Königreich beruht aber auf der Idee, dem Parlament zu vertrauen."
Anders als in Deutschland gibt es im Vereinigten Königreich das Mehrheitswahlrecht. Nur wer seinen Wahlkreis gewinnt, wird Mitglied im Unterhaus. Das soll eine enge Verbindung zwischen Parlament und Bevölkerung herstellen. Brexit-Befürworter heben hervor, wie sehr sie die Möglichkeit zum direkten Kontakt zu ihrem Abgeordneten schätzen, während Europaparlament und Kommission fernab seien. Damit nimmt man aber in Kauf, dass die rechtspopulistische UKIP zum Beispiel mit nur einem Abgeordneten im Unterhaus vertreten ist – bei fast vier Millionen Wählern. Die Schottische Nationalpartei hat deutlich weniger Wähler, knapp 1,5 Millionen – entsendet aber 56 Unterhaus-Abgeordnete.

Brexit-Befürworter sind über die EU-Einmischung erbost

David Cameron im Jahr 2010. Gemeinsam mit dem Chef der Liberaldemokraten Nick Clegg stellt er den Koalitionsvertrag vor. "Das ist die erste Koalitionsregierung seit 60 Jahren, deren Regierung auf drei Prinzipien beruht: Freiheit, Fairness und Verantwortung." Die Koalition ist der Ausnahmefall, seit 2015 regieren die Tories alleine. Zur Demokratie in Großbritannien gehört eine starke Regierung und eine starke Opposition. Wer an der Macht ist, kann jedes Gesetz beschließen, wie er will – wenn das eigene Lager mitspielt. Die komplizierte Machtmechanik in der EU mit ihren vielen Institutionen ist vielen Briten suspekt.
"I believe we've got to start control our own country.”
"So we have more control over items that really matter to us.”
"We are just getting to the point we can't control anything.”
"Wir müssen unser Land und unsere Dinge wieder kontrollieren, wir haben bald nichts mehr unter Kontrolle." In der Diskussion um einen Brexit fallen diese Sätze immer wieder. Dass sich die EU durch Gesetze oder Entscheidungen ihrer Gerichte gelegentlich über den britischen Gesetzgeber stellen will, erbost die Brexit-Befürworter eminent. Deswegen hat die Regierung ein Souveränitätsgesetz ins Spiel gebracht, um die Rechte des britischen Parlaments abzusichern. Mit Hilfe des Supreme Court, des Obersten Gerichts - das es also gibt, das aber kein Verfassungsgericht ist. Die Pläne richten sich gegen eine zu mächtige EU.
"Wenn die Briten für den Verbleib in der EU stimmen, soll ein Souveränitätsgesetz kommen. Dass Oberste Gericht soll dem deutschen Bundesverfassungsgericht in dieser Beziehung ähneln. Es sollen Grenzen gezogen werden, was die EU tun darf und wann ihre Gesetze und Vorschriften im Vereinigten Königreich überhaupt gelten dürfen."
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