Demokratie findet nicht "im Amtszimmer" statt

Ulrich Maly im Gespräch mit Nana Brink · 20.12.2011
Der Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) fordert, dass die Kommunen neue Formen der Bürgerbeteiligung etablieren und andere Wege der Information beschreiten als bisher. Das Wahrnehmen von Demokratie könne in der Kommunalpolitik besonders stark sein, sagt er.
Nana Brink: Es war ein Superwahljahr, dieses Jahr 2011, sieben Landtagswahlen, aber der Bürger hat der Demokratie die kalte Schulter gezeigt. Die Beteiligung der Bürger war so niedrig wie nie. Auch beim nun schon legendären Volksentscheid zu Stuttgart 21 sind weit weniger Menschen an die Urnen geeilt, als man eigentlich angenommen hatte. Und auf der anderen Seite geht der Wutbürger auf die Straße, fordert Mitbestimmung über Museumsbauten, Bahnhöfe und den Haushalt.

Ist unsere Demokratie reformbedürftig? Das wollen wir in einer kleinen Serie zum Jahresausklang herausfinden: "Frischzellenkur für die Demokratie: Der Bürger entscheidet mit." Und wo kann er das meistens sehr direkt? Zum Beispiel in der Stadt, in der er wohnt, und deshalb blicken wir in die Kommunen, und zwar nach Nürnberg. Dort leitet Ulrich Maly als Oberbürgermeister die Geschicke der Stadt, er ist Mitglied des SPD-Vorstands, und seine Stadt hat sich mit 17 anderen Städten zum Netzwerk Lokale Demokratie zusammengeschlossen.

Ich habe ihn gefragt: Warum ist denn eine funktionierende Demokratie gerade auf lokaler Ebene so wichtig?

Ulrich Maly: Na ja, ich kann mir ein Leben ohne Demokratie schlicht nicht vorstellen, und wir sind auf der lokalen Ebene eigentlich prädestiniert dazu, uns mit dem Thema intensiv auseinanderzusetzen, denn Politik entsteht ja in aller Regel aus Betroffenheit. Das kann Empörung sein, etwa über die Umweltzerstörung, über die Bewaffnung oder sonst was, und in der Kommunalpolitik haben Sie idealtypischerweise den Zustand, dass die Dinge, über die wir zu entscheiden haben, die Menschen sehen können. Und wenn ich was sehen kann, dann kann ich reden drüber und dann kann ich auch mitreden.

Das heißt, nirgendwo ist der Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung einer politischen Entscheidung und der Möglichkeit, drüber zu reden, so dicht wie in der Kommunalpolitik, und deshalb steht und fällt demokratisches Wahrnehmen eigentlich mit der Art und Weise, wie wir Demokratie und Politik betreiben.

Brink: Wie setzen Sie das in Nürnberg um, können Sie uns da ein paar Beispiele geben?

Maly: Ja, ich bin angetreten mit der Überschrift "Stadtpolitik im Dialog". Wir haben natürlich überall in Deutschland die berühmten gesetzlich vorgegebenen Partizipationsverfahren. Also wenn Sie heute Bebauungsplanverfahren machen, dann gibt es die Anhörung der Träger öffentlicher Belange und dann gibt es die öffentliche Auslegung. Die Verfahren sind aber in aller Regel dermaßen verkompliziert und auch durch Richterrecht geprägt, dass keiner mehr sie wirklich als Partizipation empfindet. Das heißt, wir müssen neue Formen suchen für uns, neue Formen zu informieren, auch über die klassischen Medien hinaus, weil nur noch ein kleinerer Teil der Bevölkerung tatsächlich Zeitung liest, und wir müssen neue Formen des Dialogs erfinden. In allererster Linie sind das niedrigschwellige Angebote. Wenn man merkt, in irgendeinem Stadtquartier gibt es ein Thema, das hoch schwappt, das die Menschen polarisiert, dann muss man rausgehen und in ein offenes Gespräch eintreten, man muss kommen. Demokratie ist nichts, was am grünen Tisch oder im Amtszimmer stattfindet, sondern das heißt rausgehen, kommunizieren, zu den Leuten gehen, auch dorthin gehen, wo es wehtut.

Brink: Machen Sie das als Oberbürgermeister, dass Sie – also wenn ich mir das jetzt vorstelle – in einen Stadtteil gehen und dort konkret erklären, warum es diese und jene Straße geben muss?

Maly: Ja klar, dazu ist Nürnberg immer noch klein genug mit einer halben Million Einwohner, und es gibt auch die konkrete Erwartung an den Oberbürgermeister, sich da zu stellen – ja, ich tu das.

Brink: Nicht nur der Oberbürgermeister, sondern auch die anderen Mitglieder?

Maly: Ja, wir haben zum Beispiel ein Format bei uns erfunden, jetzt seit zehn Jahren sehr erfolgreich, das nennt sich mobile Bürgerversammlung, da starten wir im Sommer am Hauptmarkt in Nürnberg, also in der Mitte der Stadt, auf Fahrrädern. Da ist die gesamte Stadtspitze dabei, wir sind niedrigschwellig unterwegs, in Jeans und T-Shirt, meistens radeln so 80 bis 250 Leute mit. Wir radeln dann dorthin, wo es aktuelle Diskussionen gibt – das kann mal ein Stadtentwicklungsthema sein, mal ein Verkehrsthema –, und das Ganze endet dann nach fünf Stunden in irgendeinem Biergarten.

Brink: Wie schafft man denn Vertrauen bei den Bürgern, wie machen Sie denn das? Wir sehen ja gerade an der Affäre um Bundespräsident Wulff, dass es schwierig ist, Vertrauen zu schaffen.

Maly: Also zunächst mal durch den Versuch, die Themen auf den sachlichen Kern, den sie in aller Regel haben, zu reduzieren und sich nicht selber über Polemik zu profilieren. Und zweitens auch dadurch, dass man sagt, wenn was nicht geht. Also Partizipation und auch Kommunikation heißt immer, dass die Spielregeln eigentlich offengelegt werden müssen, und wenn Entscheidungen gefallen sind oder wenn Sachzwänge uns zwingen, in eine bestimmte Richtung zu entscheiden, und ich würde dann Partizipation vorgaukeln, dann würde ich die Menschen eher verdrießen.

Und deshalb ist die berühme Geschäftsgrundlage eigentlich wie im Privatleben oder in einer Partnerschaft: Wenn man ordentlich miteinander umgeht, dann schafft man am leichtesten Vertrauen.

Brink: Plädieren Sie denn dann auch für mehr Bürgerbeteiligung? Sie haben ja jetzt nur von Dialog gesprochen, das ist ja eine Einbahnstraße erst mal.

Maly: Wir sind ja in Bayern mit einem kommunalen Recht gesegnet, das sehr weitgehende Rechte für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide vorsieht. Man muss zwei Fallkonstellationen unterscheiden zunächst: Da gibt es das Bürgerbegehren, das als Basisbewegung kommt – das verlangt immer ein bestimmtes Quorum, was zur Folge hat, dass es eigentlich nur für Anwendungsfälle infrage kommt, wo vorher schon die Bevölkerung relativ polarisiert ist. Das heißt, man muss sich erst ordentlich streiten, damit man überhaupt genügend Unterschriften für so ein plebiszitäres Element zustande kriegt. Das halte ich für ein bisschen problematisch, weil Aufgabe der Politik ist eigentlich auch, Polarisierung in der Stadtgesellschaft zu vermeiden.

Das Zweite ist das sogenannte Ratsbegehren, wo also die Stadtratsfraktionen, der Stadtrat insgesamt, der Oberbürgermeister sagt, das ist ein Thema, da möchten wir gern eure Meinung wissen, bitte entscheidet. Und wir gehen dann nach draußen und tun so was. Damit tut sich die repräsentative Demokratie noch schwer, weil das gemeinhin als Schwäche interpretiert wird, wenn man nicht selbst entscheidet, sondern die Bürger fragt. Und da bin ich gerade dabei, dran zu arbeiten, dass wir das nicht als Schwäche, sondern ähnlich wie die Schweizer eigentlich als eine starke Ergänzung der repräsentativen Demokratie empfinden.

Brink: Aber es gibt doch dann auch Grenzen plebiszitärer Elemente. Also wenn wir gerade bei Ihnen zum Beispiel die Debatte um einen Museumsbau ... Da haben Sie ja gesagt, eine Bürgerabstimmung ist nicht eigentlich günstig.

Maly: Also es gibt zwei Grenzen. Es gibt eine Grenze, nämlich wenn ein Thema entweder nur einen Stadtteil interessiert oder gar zwei Stadtteile gegeneinanderhetzt, dann ist es für gesamtstädtisches Bürgerbegehren schlicht nicht geeignet, weil man keinen Erkenntnisgewinn draus zieht – die einen sind dafür, die anderen dagegen, den Rest interessiert es nicht. Und das Zweite ist das ganze Thema rund um Ästhetik – früher hat der König entschieden, welche Bilder schön sind. Wir haben in der Demokratie für uns den Weg gefunden, dass wir Intendanten und Kuratoren haben und eben nicht der Oberbürgermeister in der Pause des Schauspiels auf die Bühne geht und sagt, mir gefällt es nicht, wir brechen ab.

Brink: Eine abschließende Frage: Nürnberg ist auch Mitglied im Städtenetzwerk Lokale Demokratie, da haben sich 17 Städte zusammengeschlossen – was ist der Zweck?

Maly: Ja, im Grunde das, was ich eben gesagt habe, strukturiert auszutauschen. Wir sind alle gefordert, insbesondere in der räumlichen Planung – das kommt ja stärker aus der räumlichen Planung, dieses Städtenetzwerk – in der räumlichen Planung neue Wege zu finden, der Kommunikation und auch der Partizipation. Dort werden Best-Practice-Beispiele ausgetauscht, dort wird auch artikuliert, was man sich von Bundes- und Landesgesetzgebern an rechtlichen Rahmen wünschen würde und Ähnliches mehr. Und es gilt das alte Prinzip: Viele mit gleichen Problemen sind stärker, als wenn jeder versucht, das Rad für sich selbst zu erfinden.

Brink: Ulrich Maly war das, der Oberbürgermeister von Nürnberg. Und morgen geht es in unserer Serie "Frischzellenkur für die Demokratie: Der Bürger entscheidet mit" um die Frage, wie Nichtwähler auch mitbestimmen können, und wir berichten um kurz nach sechs über ein spannendes Projekt an der Uni Wuppertal.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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