Demografischer Wandel - oder doch nicht?

"Städte und Gemeinden verändern sich"

Auf blauem Hintergrund sind die Silhouetten einer Familie mit Mutter, Vater, Tochter und Sohn in weiß zu sehen.
Wie steht es wirklich um den demografischen Wandel? Darüber streiten die Forscher derzeit © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Petra Klug im Gespräch mit Nana Brink · 13.10.2015
Beruht die Angst vor dem demografischen Wandel auf Panikmache? Das meint der Statistiker Gerd Bosbach. Petra Klug von der Bertelsmann-Stiftung widerspricht: Wer mit offenen Augen durch Städte und Gemeinden gehe, könne bereits die Veränderung sehen.
Viel Panikmache steckt hinter dem viel beschworenen demografischen Wandel, kritisierte der Statistiker Gerd Bosbach im Deutschlandradio Kultur. Die Warnungen seien unbegründet und würden teilweise Eigennutz von Wissenschaftlern und Stiftungen entspringen, indem diese massiv Gelder für entsprechende Forschungen bekämen.
Dem widerspricht Petra Klug von der Bertelsmann-Stiftung. Die Bertelsmann-Stiftung sei eine politisch unabhängige, gemeinnützige Stiftung, betont sie.
"Das heißt, nach dem Willen unseres Stifters Reinhard Mohn initiieren wir eigene Projekte und können eigene Studien beauftragen, gerade ohne politische oder sonstige interessengeleitete Aufträge."
"Keiner weiß, wie viele Flüchtlinge bleiben werden"
Man wolle weder Angst schüren noch dramatisieren, sagt Klug. Aber dass sich etwas in der Zusammensetzung unserer Städten und Gemeinden ändere, könne jeder sehen, der mit offenen Augen durch unsere Städte und Gemeinden gehe.
Allerdings sei es schwierig, die Entwicklung vorauszuberechnen, vor allem, was die Wirkung von Wanderungsbewegungen angeht, räumt die Forscherin ein.
"Im Moment kann ja kein Mensch abschätzen, wie viele der Flüchtlinge überhaupt bleiben dürfen, wie viele bleiben wollen, wie lange sie bleiben wollen. Aber dafür zu sensibilisieren, solche Entwicklungen in den Blick zu nehmen, das ist auch Aufgabe von solchen Vorausberechnungen."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wir sprechen ja seit Jahren – besser: Jahrzehnten – vom demografischen Wandel, also jenem angeblich unumstößlichen Fakt, untermauert von Statistiken und Zahlenbäumen, dass wir immer älter und immer weniger werden in Deutschland. Es gibt zumindest einen, der das für Humbug hält, der Statistiker Gerd Bosbach von der Fachhochschule in Köln, und gestern hat er gesagt, die Demografie hat sich geirrt.
Gerd Bosbach: Ja, die hat sich geirrt. Die müsste ja auch schon längst ihre Vorhersagen von 1990 oder 2000 zurücknehmen und sagen, es ist doch gar nicht so gekommen, wie wir angenommen haben. Das tut sie nicht. Ich weiß jetzt auch nicht, ob da Böswilligkeit dahintersteckt. Es ist für einen Forscher immer schwer, wenn man jahrzehntelang in eine Richtung publiziert und anschließend sagt, oh, war alles falsch.
Brink: Sagt der Statistiker Gerd Bosbach, eine steile These, die wollen wir natürlich hinterfragen, und zwar mit Petra Klug von der Bertelsmann Stiftung, sie arbeitet da im Projektbereich demografischer Wandel. Schönen guten Morgen hier im "Studio 9", Frau Klug!
Petra Klug: Guten Morgen, Frau Brink!
Die Kommunen müssen Strategien entwickeln
Brink: Sie arbeiten ja gerade im Bereich der kommunalen Verwaltung, erarbeiten Zahlen für Kommunen und Gemeinden. Jetzt haben wir gerade den Statistiker Gerd Bosbach gehört – müssen wir den demografischen Wandel als Irrtum annehmen?
Klug: Nein, das müssen wir nicht. Da sind wir ganz anderer Auffassung als Herr Bosbach. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir insbesondere die kommunale Ebene im Blick haben, und dort kann man ja bereits sehen, welche Folgen demografische Entwicklungen haben, wenn sie durch unsere Städte und Gemeinden mit offenen Augen gehen, dann sehen Sie, dass sich da etwas verändert, und da müssen Kommunen umgehen mit und versuchen, da Strategien zu entwickeln, und dafür braucht man dann auch möglichst eine gute Basis und vielleicht auch ein paar Statistiken und Vorausberechnungen.
Brink: Aber er kritisiert ja gerade, dass man sich auf Statistiken stützt, die veraltet sind – was sind denn Ihre Quellen?
Klug: Wir verwenden Daten des Statistischen Landes- und Bundesamtes. Zum Beispiel, für so eine Vorausberechnung muss man natürlich bestimmte Annahmen treffen. Diese Annahmen zu treffen, sind relativ schwierig methodisch zum Teil, da hat Herr Bosbach völlig recht, denn insbesondere, was das Thema Wanderung betrifft, ist das natürlich schwierig, abzusehen, ob sich Wanderungen so weiterentwickeln, wie das in der Vergangenheit gewesen ist.
Wanderungen entwickeln sich auch nicht linear, sondern es gibt immer so Wellenbewegungen, das kann man sehen in der Vergangenheit, beispielsweise nach dem Fall der Mauer hat es natürlich auch innerdeutsch ganz große Wanderungsbewegungen gegeben, durch die EU-Ost-Erweiterung oder die sogenannten Spätaussiedler gab es Wanderungsbewegungen, und aktuell sehen wir natürlich an den Flüchtlingsströmen auch, dass da sehr viel in Bewegung ist. Das kann man nur schwer für den nächsten 20. 30, 40 oder gar 50 Jahre vorausberechnen, insofern kann man immer nur versuchen, einen bestimmten Trend abzubilden.
Es ist ja nicht so, dass man diese Statistiken macht nur um der Statistik Willen, sondern die Kommunen brauchen ja Planungsgrundlagen. Sie müssen ja Infrastruktur vorhalten, sie müssen Kitaplätze vorhalten, sie müssen beispielsweise generationengerechte Wohnungen, Unterstützungsdienstleistung für ältere Menschen vorhalten. Und gerade, wenn es um Infrastruktur geht, braucht man ja auch einen gewissen Planungsvorlauf, und dann bleibt einem nichts anderes übrig, als zu gucken, so nah wie möglich an Realität ranzukommen.
Keiner weiß derzeit, wie sich das mit den Flüchtlingen entwickelt
Brink: Richtig, genau, und da würde ich ja gerne mal einhaken, weil genau das, sehen wir ja, hat ja überhaupt gar nicht funktioniert, kann wahrscheinlich auch nicht bei den Flüchtlingen, bei der Zahl, die jetzt momentan ankommt. Kann man nicht die Berechnungen der 90er-Jahre hochgerechnet auf heute, kann man die nicht jetzt einfach in die Tonne treten?
Klug: Das kann man und man arbeitet aber auch nicht so. Da glaube ich, gibt es auch ein unterschiedliches Verständnis von dem, was solche Vorausberechnungen leisten können. Man macht ja nicht beispielsweise eine Vorausberechnung bis 2030, um dann abzuwarten, ob sich das alles so auch tatsächlich entwickelt hat, sondern man versucht, einen Trend abzubilden, so gut es eben geht, damit man eine Vorstellung davon hat, wie die Entwicklungen voranschreiten. Da geht es auch nicht um die einzelne Zahl, den einzelnen Einwohner, der da mehr oder weniger möglicherweise in die Stadt kommt, sondern, wie gesagt, um bestimmte Trends, mit denen man dann arbeiten kann.
Wenn man beispielsweise, wie das jetzt der Fall ist, nicht genau weiß, wie sich das mit den Flüchtlingen entwickelt, dann muss man die Situation beobachten und muss gucken, welche Rahmenbedingungen auch auf der gesetzlichen Seite verändern sich. Im Moment kann ja kein Mensch abschätzen, wie viele der Flüchtlinge überhaupt bleiben dürfen, wie viele bleiben wollen, wie lange sie bleiben wollen, aber dafür zu sensibilisieren, solche Entwicklungen in den Blick zu nehmen, das ist auch Aufgabe von solchen Vorausberechnungen oder das, was Demografieforscher eben tun.
"Wir sind eine politisch unabhängige, gemeinnützige Stiftung"
Brink: Gerd Bosbach, der Statistiker gestern im Gespräch mit uns, hat ja noch einen ganz anderen Vorwurf in den Raum gestellt, nämlich der, nicht nur, dass die Demografie sich geirrt hat, dass sie es auch nicht zugibt.
Bosbach: Bertelsmann-Stiftung, Berlin-Institut, Robert-Bosch-Stiftung, die haben massiv Gelder bekommen. Und die haben, und das war für mich eine ganz schlimme Angelegenheit, als ich das festgestellt habe, die haben dann Zusammenarbeit mit öffentlichen Behörden gemacht, die sie aber finanziert haben. Und deren Ergebnisse diese privaten Geldgeber in die Öffentlichkeit gebracht haben.
Brink: Wie halten Sie das bei der Bertelsmann Stiftung?
Klug: Also, ich weiß nicht, wie Herr Bosbach dazu kommt, solche falschen Behauptungen in den Raum zu stellen und welche Motive er hat, damit unsere Arbeit auch zu diskreditieren. Die Bertelsmann Stiftung ist eine politisch unabhängige, gemeinnützige Stiftung, und sie ist eine operative Stiftung, das heißt, nach dem Willen unseres Stifters Reinhard Mohn initiieren wir eigene Projekte und können eigene Studien beauftragen, gerade ohne politische oder sonstige interessensgeleitete Aufträge.
Keine Angst schüren, sondern Transparenz herstellen
Brink: Wie steht dann der Vorwurf im Raum, viele Demografen würden ja die Angst schüren. Das steht ja auch hinter dieser ganzen Debatte. Wie sehen Sie das?
Klug: Ob das die Demografen sind, das weiß ich nicht. Mit unserer Arbeit und unseren Veröffentlichungen wollen wir nicht die Angst schüren und auch nicht dramatisieren, und ich meine, jeder, der unsere Veröffentlichungen kennt und weiß, wie wir arbeiten, weiß auch, dass wir das nicht tun, aber es ist auch nicht besonders sinnvoll, den Kopf in den Sand zu stecken. Wir wollen deutlich machen, dass sich etwas ändert in der Zusammensetzung der Bevölkerung in unseren Städten und Gemeinden, und wir wollen Transparenz herstellen. Und dazu haben wir unter anderem solche Vorausberechnungen rechnen lassen und veröffentlicht, auch in unserem Webportal "Wegweiser Kommune", da kann sich jeder informieren. Transparenz gilt natürlich auch für unsere Arbeit: Wir dokumentieren, mit wem wir da zusammenarbeiten, wie wir unsere Annahmen getroffen haben, und das kann sich jeder angucken und für sich entscheiden, ob er das für eine solide Grundlage für seine Planungen hält.
Brink: Petra Klug von der Bertelsmann Stiftung im Bereich demografischer Wandel tätig für die Prognosen. Danke, Frau Klug, für das Gespräch!
Klug: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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