Demenz

Mit Singen und Anfassen gegen das Vergessen

Auf dem Bild ist ein an Demenz erkrankter Mann in einem Seniorenheim zu sehen. In der rechten Hand hält er eine Hantel. Der Rentner nimmt an der Morgengymnastik teil.
"...das Bedürfnis, irgendwas anzufassen." © picture alliance / dpa / Foto: Felix Kästle
Von Hartwig Tegeler  · 10.01.2014
Im Jahr 2050 soll es weltweit an die 135 Millionen Demenz-Kranke geben. Menschen, die zeitweise das eigene Kind nicht mehr erkennen oder ganz in eine geistige Nacht fallen. Die Buchreihe "SingLiesel" mit Bildern und Liedern hilft den Betroffenen, einfacher mit der Krankheit umzugehen.
Wollte man das hier…
"Winter ade"
…wollte man die Musik, die hier aus der "SingLiesel" erklingt, ´musikalisch` hören…
"Winter ade"
…gut, dann ist das, vorsichtig gesprochen, eher etwas befremdlich. Auch für Miriam Tönnis, die Fachärztin für Neurologie, die die "SingLiesel" zusammen mit Gerontologen, Psychologen und Musiktherapeuten entwickelt hat:
"Diese langsame Stimme, die mich am Anfang auch erst etwas irritiert hat. Ich glaube, das geht einigen so, die das Buch hören."
Doch es geht nicht um musikalische Brillanz, sondern um Kommunikation. Um den Versuch, mit diesem Bilder-, Hör- und Anfass-Buch eine Brücke herzustellen zu den Demenzkranken. Die "SingLiesel", dieses Buch, ist groß, nicht sehr schwer, aber Man "hat etwas in der Hand". Die Seiten sind aus dicker Pappe - wie eine Schulfibel. Schlägt man in dem Band mit den "Schönsten Liebesliedern" beispielsweise die Seite mit dem Lied "Ännchen von Tharau" auf, so ist eine einfach gehaltene, bunte Zeichnung zu sehen. Rechts ein Mann mit einem Blumenstrauß, der vor einem Fenster steht und verliebt zu Ännchen schaut, die drinnen gerade auf ihre Katze blickt, die eine Tasse umstößt. Links, oben im Bild, gut sichtbar, der rote Knopf zum Abspielen. Ein leichter Druck und der Gesang beginnt.
"Ännchen von Tharau"
Miriam Tönnis: "Bei Demenz verliert man sich ja sehr. Die Patienten, die wissen ja oft gar nicht mehr, wo die Wurzeln sind und warum jetzt gerade um sie herum etwas geschieht. Und wenn man dann einfach eine Verbindung schafft über eine positive Emotion durch die Musik, dann kann das einfach die Atmosphäre entspannen, es kann Kontaktaufnahme möglich werden. Einfach auch über den Rhythmus, über den Takt. Einfach positive Gefühle wecken."
Musik kann eine Brücke sein
Erklärt Neurologin Miriam Tönnis. Da inzwischen bekannt ist, dass das musikalische Gedächtnis in der Demenz zuletzt verblasst, so kann Musik eine Brücke zu den Kranken bauen und Möglichkeiten zur Kommunikation eröffnen:
"Wenn man dann eben Lieder nimmt, die mit bestimmten Erlebnissen zum Beispiel aus der Kindheit und der Jugend verknüpft werden oder auch mit Gefühlen wie an Feiertagen oder eben mit der Runde mit mehreren Menschen oder so. Dann kann man eben auch Emotionen wecken über Musik."
Wichtig war bei der Konzeption der multisensorischen "SingLiesel" außer der Musik – Hören, Erinnern - zusätzlich aber auch das haptische Element, also die Möglichkeit, das, was man sieht und hört, auch noch zu sinnlich zu spüren, aktiv zu fühlen. Die Frau auf der "Ännchen von Tharau"-Seite beispielsweise hat lange blonde Zöpfe. Einer dieser Zöpfe aber ist nicht nur gezeichnet, sondern kommt gleichzeitig, geflochten aus weichem Garn, unten eine Schleife, aus der Zeichnung heraus. Instinktiv fasst man, wenn man das Bild anschaut und das Lied hört, sofort den Zopf an. In der Demenz nimmt die Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, ab. Der Kranke versteht Texte nicht mehr, kann Bilder oder Dinge nicht so einordnen, wie wir es selbstverständlich tun. Dieser geflochtene Zopf der Figur im Bild hilft das Gesehene besser zu begreifen - "begreifen" im wahrsten Sinne des Wortes.
"Wenn man demenzkranke Patienten oder Menschen beobachtet, die nesteln sehr oft. Das heißt, die haben so eine Bewegungsunruhe auch mit den Händen. Und das Bedürfnis, irgendwas anzufassen. Und einfach auch diesem Bedürfnis, denke ich, kommt man sehr gut nach, wenn es ein begreifbares Element gibt."
Lange am richtigen Konzept gefeilt
Wie allerdings muss eines dieser doppelseitigen Bilder mit Musik überhaupt aussehen, damit es für Demenzkranke geeignet ist? Daran haben die Pfleger, Musiktherapeuten, Psychiater und Neurologen, die die "SingLiesel" mitentwickelt haben, lange gefeilt. So waren die Bilder in den ersten Fassungen, erzählt Miriam Tönnis, zum Teil überladen. Zu viele Details. Die Musik war zu hektisch, zu schnell. Und auch das mit den Fühl-Elementen wie beispielsweise dem Zopf musste nach den ersten praktischen Versuchen mit Kranken reduziert werden.
"Wenn zu viel auf einer Seite ist, dann ist irgendwie unklar, wo fasst man hin. Also wurde dann nur ein Fühl-Element daraus."
Die "SingLiesel" ist ohne Frage kein Allheilmittel, aber ein Handwerkszeug, das beitragen kann, Entspannung und ein paar gute Momente im Kontakt mit den Dementen herbei zu führen. Das klingt nach wenig, kann aber in der schwierigen Kommunikation mit einem kranken Angehörigen sehr viel bedeuten. Inzwischen gibt es acht Bände dieser "SingLiesel", von Volks-, Wander- und Frühlings- bis zu Abendliedern. "Ännchen von Tharau" oder "Kein schöner Land in dieser Zeit" oder "Komm, lieber Mai und mache". Versehen mit einem Repertoire also für die heutigen Demenzkranken, die in den 1930er, 40er oder 50er Jahren geboren wurden. Aber pragmatisch gesprochen wird die "SingLiesel" in ein, zwei Jahrzehnten "ihr Liedgut" ändern müssen. Da wird dann wohl weniger "Ännchen von Tharau", eher der Beatles-Song "All You Need Is Love" zu hören sein.
"Also, wir können jetzt schon mal festlegen, was wir dann gerne hören mögen."
…wenn man auf den roten Knopf drückt.

Hörbuch: "SingLiesel. Singen, Erleben, Erinnern"
Singliesel Verlag, Karlsruhe 2013
Acht Bände, jeweils 29,95 EUR

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