Demaskieren, nicht dämonisieren

Von Marc-Christoph Wagner · 21.04.2012
Man könnte Anders Behring Breivik abtun als einen Sonderling, als einen Verrückten, wie es das eine von zwei psychiatrischen Gutachten unzweideutig feststellt. Man könnte seine Gesten vor Gericht, seine Grüße an die Welt oder an vermeintliche Mitstreiter ignorieren, sie sogar zensurieren, wie es einige Journalistenkollegen zu Beginn dieser Woche taten.
Man könnte sich abwenden, mit empörter Geste, wenn Breivik über mehr als eine Stunde sein Weltbild darlegt und seine Thesen von einem Kulturkampf zwischen dem Westen und dem Islam verkündet. Der Beifall aller politisch Korrekten wäre ob eines solchen Verhaltens gesichert. Denn wahr kann bekanntlich nicht sein, was nicht wahr sein darf.

Aber müssen wir nicht zunächst verstehen, wofür wir kein Verständnis haben? Wer Breivik zuhört und ihn im Gerichtssaal des Osloer Tinghus aus der Nähe betrachtet, dem kommen Zweifel, ob es damit getan ist, diesen Massenmörder als Geistesgestörten abzutun. Er mag besessen sein von sich und seiner Sicht auf die Welt. Manche Thesen sind so extrem, dass man sie rational kaum nachvollziehen kann. Etwa, wenn Breivik die Jugendlichen auf Utøya mit der Hitlerjugend vergleicht, das Sommercamp der norwegischen Jusos als Indoktrinierungslager bezeichnet und am Ende behauptet, manchmal sei eine kleine Barbarei vonnöten, um eine noch größere zu verhindern. Breivik spricht von einem für ihn sich abzeichnenden Krieg zwischen Orient und Okzident.

Nein, normal ist dieser selbst ernannte Kreuzritter nicht. Dennoch fällt auf, wie seine Gedanken Anklang finden - weit über bizarre Individuen und rechtsextreme Verschwörerzirkel hinaus. Die Angst vor dem Islam, vor Überfremdung und gesellschaftlichem Auseinanderfallen, die Abwendung von der politischen Mitte, die bestimmte Themen ignoriert und nicht-konforme Standpunkte oft stigmatisiert. Wer das nicht sehen will, hat das Aufblühen des Populismus in weiten Teilen Europas und die wachsende Zahl der politisch Heimatlosen nicht verstanden.

Diese Heimaltlosen sind - Gott sei Dank - keine Breiviks. Aber ein wenig Breivik ist in ihnen möglicherweise vorhanden. Sollten nicht gerade wir in Deutschland dies zur Kenntnis nehmen? Nicht allein aufgrund unserer Geschichte, sondern auch weil wir gerade erst den Terror einer selbst ernannten Zelle erlebt haben, die Breivik explizit als Mitstreiter bezeichnet?

Wir können das alles ignorieren, weil es mit unbequemen Fragen verbunden ist. Doch das Böse ist unter uns. Das hat nicht nur der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen mit Blick auf Breivik erkannt. Dieses Böse geht auf unsere Schulen, es liest unsere Zeitungen, führt ein anscheinend normales Leben. Bis es eines Tages aus dieser Normalität ausbricht und uns alle schockiert.

Böse Geister kommen und entfalten ihre Kraft in der Dunkelheit der Nacht. Am Tage jedoch verlieren sie ihre Macht. Der norwegische Journalist Erik Sønstelie, dessen Tochter Siri das Blutbad von Utøya überlebte, tritt mit diesem Gleichnis für eine öffentliche Auseinandersetzung mit Breivik ein. Wie recht er hat, hat die erste Woche dieses Prozesses bewiesen. Durch die beharrliche Befragung der Staatsanwälte fielen viele von Breiviks Darstellungen in sich zusammen.
Das Monster wurde zum Menschen, das Böse banal - wenn auch keineswegs weniger erschreckend. Natürlich ist noch immer offen, wie es so weit kommen, wie sich ein Junge aus dem wohlsituierten Oslo zum ideologisch besessenen Massenmörder entwickeln konnte.

Eines jedoch steht fest: Wer nicht genau hinsieht und Breivik von vornherein als Verrückten abstempelt, wird die Antwort auf diese und andere Fragen nie finden. Und wird so wieder fassungslos und schockiert dastehen - irgendwo, irgendwann.
Mehr zum Thema