Dem Film total ausgesetzt

Martin Seel im Gespräch mit Ulrike Timm · 02.10.2013
Der Film könne unsere Selbsterfahrung auf eine ganz eigene Weise aufstören, sagt der Philosoph Martin Seel. Damit erfülle er eine wesentliche kulturelle Funktion der Künste: zu bestimmen, was uns berührt und wo unsere Grenzen sind.
Ulrike Timm: Der Philosoph Martin Seel hat sich mit den Künsten des Kinos beschäftigt und darüber nachgedacht, wie sich der Film die verschiedensten Künste anverwandelt und dann etwas Eigenes daraus macht. Erst mal stutzt man – ist doch klar: Film braucht Kulisse, eine Szene, da spielen notwendigerweise das Bild oder die Architektur eine Rolle. Das Kino braucht Klang, logisch, dass die Filmmusik mittlerweile ein Genre für sich ist, dass man bei Morricones "Spiel mir das Lied vom Tod" fast automatisch die Mundharmonika im Ohr hat oder doch zumindest unterschwellig wahrnimmt, dass ein Regisseur wie Christian Petzold in seinen Werken ganz ohne Musik auskommt. Aber wenn der Film aus den anderen Künsten tatsächlich etwas Neues, etwas Eigenes macht, dann liegen die Dinge womöglich noch anders und tiefer. Guten Tag, Martin Seel!

Martin Seel: Schönen guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Seel, Sie fangen eigentlich noch früher an: Das Kino gehört unbedingt für Sie zum Film dazu. Wie das? Inzwischen kann man sich ja längst Filme aufs Smartphone laden.

Seel: Es gehört nicht unbedingt dazu, aber ich habe mich in meinem Buch auf die Urszene des Erscheinens von Filmen konzentriert, vorwiegend handele ich von Spielfilmen, und die Urszene dort, der Raum, in dem sich das Potenzial des Kinofilms am besten und radikalsten entfalten kann, ist nun mal seit Langem das Kino. Natürlich ist es so, dass Filme an vielen anderen Orten auch eine große Rolle spielen, nicht nur im Fernsehen, sondern im Internet, auf Smartphones und allen möglichen anderen Geräten. Das sind eigene Formen der Präsenz von Filmen, die man von der Kinoerfahrung doch unterscheiden kann, denn im Kino sind wir ganz auf diesen Film konzentriert, wir sind ihm geradezu ausgesetzt und können nichts anderes tun, als uns diesem Film überlassen. Das ist bei den anderen Gelegenheiten des Schauens von Filmen ja durchaus anders.

Timm: Das heißt im Umkehrschluss: Fürs Gelingen der Sache spielen wir mit?

Seel: Wir spielen mit, wir müssen mit dem Film mitgehen. Um mit einem Film mitzugehen, muss man ja mit ihm gehen, das heißt, man muss sich auf ihn einlassen.

Timm: Der Film verwendet stets andere Künste, um sein eigenes Dings zu machen. Das ist ja ein bisschen auch eine Binsenweisheit. Aber welche Szenen und Momente stehen Ihnen denn da plastisch vor Augen und Ohren, wo Sie sagen: Es ist wirklich ganz eigenständig, es ist filmentscheidend, dass der Film diese Anleihen bei anderen Künsten nutzt?

"Film benutzt das Verfahren der Raumteilung"
Seel: Es ist ja nicht nur eine Eigenart des Films. Wenn man genau darüber nachdenkt, stehen alle Künste in einem ständigen Dialog miteinander. Sie verbinden sich, sie grenzen sich voneinander ab, sie übernehmen bestimmte Verfahren und verwandeln diese Verfahren. Nehmen wir das Verhältnis zur Architektur: Die Architektur funktioniert über Raumteilung. Ein Raum wird abgegrenzt, innerhalb des Raums, wenn das ein größeres Gebäude ist, werden Abgrenzungen, Durchsichtungen, Begrenzungen und so weiter gemacht, der Raum, das Gebäude befindet sich in einer bestimmten Landschaft und so weiter.

Auch der Film benutzt wesentlich das Verfahren der Raumteilung. Der entscheidende Punkt ist aber hier der Unterschied zwischen On-Screen und Off-Screen, also dem, was wir gerade auf der Leinwand sehen, und was wir alles nicht sehen. Indem immer das Abwesende auch anwesend ist, führt uns der Spielfilm in seine eigene Welt. Eine Lieblingsszene, an der ich das gerne erläutere, ist die berühmte Maisfeldszene aus "North by Northwest", also zu Deutsch, der unsichtbare Dritte: Dort gibt es gar keine Gebäude. Der Held, Roger O. Thornhill, wird von den feindlichen Spionen zu einem Treffpunkt in ein abgeerntetes Agrarland geschickt, steht da alleine rum, wir sehen das in einer Totale: leerer Raum, kein Schutzraum. Wir wissen, dass es ihm bald übel ergehen wird. Wir hören auch schon das Geräusch des kleinen Flugzeugs, aus dem er angegriffen werden wird, und dann geht die Kamera langsam in diesen Raum hinein, wir beobachten den wartenden Helden, und dann wird dieser Raum immer dichter.

Wir sehen den Kondensstreifen des Flugzeugs, wissen noch nicht, dass da die Bedrohung herkommt, und dann wird dieser große, weite Raum, der ganz langsam eingeführt wird, immer enger durch die Inszenierung, bis es schließlich im Ende zu einem Knalleffekt kommt, als der Held doch einen Fluchtraum findet, nämlich unter einem heranfahrenden Tanklaster, unter den er sich stürzt, und das Flugzeug rauscht dann da rein und es gibt eine Explosion. Und dieser riesige Raum wird immer enger.

Timm: Wichtig ist ja auch, Entschuldigung, wichtig ist ja auch das Element Zeit in diesem Hitchcock-Film. Ich glaube, auf diesem Maisfeld dreht er zehn Minuten lang, und eigentlich ist der Film ein Thriller, und trotzdem puscht diese langsame Einstellung, die Zeit, die er sich nimmt, den Film nach vorne.

"Wir werden immer vorwärts getrieben"
Seel: Ja, das ist eine der langsamsten Actionszenen, die je gedreht worden sind. Wir sind ja aus dem heutigen Kino sehr viel schnellere Actionszenen, in denen auch sozusagen wilde Raumbewegungen stattfinden, … Denken Sie nur an die Bourne-Verschwörung von Paul Greengrass, wo Matt Damon immer so ganz hektisch unterwegs ist und die Kamera, und das so geschnitten ist, dass wir überhaupt keinen Überblick mehr haben über das, was jetzt gerade eigentlich genau passiert. Das ist bei Hitchcock anders: Wir wissen immer genau, wo wir sind, aber diese Dramatik durch diese Verengung des Raums … und natürlich spielt die Zeit immer eine Rolle. Das ist ja auch wie bei der Musik: Wir können nie verweilen. Wir werden, auch, wenn es mal langsam geht, immer vorwärts getrieben. Und der Film verbindet diese architektonische, landschaftsbildende und zeitliche Fähigkeit von Architektur und Musik dann zu etwas ganz Eigenem.

Timm: Können wir darauf noch mal ein bisschen konkreter kommen, vielleicht mit Beispielen? Es ist ja klar, dass Filme für die Szene den Raum nutzen, die Architektur nutzen, vielleicht auch Bilder für die Stimmung, die Musik – das ist so, seit es den Film gibt. Aber wo ist genau der Moment, wenn diese außenstehenden Künste, sage ich mal, auf die Rhythmik, auf den filmischen Schnitt, auf die Bildfolgen, also auf die zutiefst eigenen künstlerischen Mittel des Films sich auswirken?

Seel: Ja, der Film kann etwas, was die anderen Künste – weder die Architektur noch beispielsweise das Schauspiel und auch nicht die literarische Erzählung – nicht können: Er kann uns durch, in seinen eigenen Raum führen, durch die Technik des entkörperten Blickpunkts. Wir sitzen ja im Kino und unser Blick kann augenblicklich wechseln, einfach durch einen Systemwechsel, plötzlichen Szenenwechsel, durch einen Zoom, durch das Zurückgehen in eine Totale – so ist es auch in der Maisfeldszene bei Hitchcock oder denken Sie an Actionfilme, wo Autoverfolgungsjagden, wie man sie findet da –, da springen wir in der Szene herum, und diese Führung in den eigenen imaginierten Raum, die Führung durch einen imaginierten Raum kann so nur der Film.

Hinzukommt, dass das im heutigen Film ja immer noch mit Geräusch, Klang und Musik begleitet ist, und wir finden uns buchstäblich im Klangraum dieser imaginierten Welt. Das heißt, der Film kann uns in einer Weise in seine eigene Dynamik gefangen nehmen wie die anderen Künste das nicht können, weil hier auch das zeitliche Diktat ist: Wir können nicht anders, als diesem Verlauf folgen. Wenn wir ein Buch lesen, können Sie innehalten, können Sie zurückblättern – im Kino geht das nicht. Er nimmt uns also auf eine noch stärkere Weise mit, als die meisten anderen Künste das können.

Timm: Sie sagen in Ihrem Buch, wie Filme zeigen können, woran wir mit uns sind. Klingt gut, aber was meinen Sie damit?

Seel: Das hat zum einen etwas mit den Künsten generell zu tun. Die Künste sind ja eine Institution, in der wir uns erproben können. Wir können experimentieren damit, wodurch wir uns bestimmen lassen wollen, was uns überhaupt etwas angeht. Also die Künste machen ein Experiment damit, was uns überhaupt etwas angehen kann. Das ist eine wesentliche kulturelle Funktion der Künste. Und der Film, in der Weise, wie ich es eben beschrieben habe, tut das auf eine ganz besondere Weise, sodass wir die Konfigurationen unserer Antriebe, Affekte, Affinitäten, Leidenschaften, Überzeugungen und Emotionen mit … Er spielt mit uns, er spielt sein Spiel mit uns und kann unsere Selbsterfahrung auf eine ganz eigene Weise aufstören, ihr nachspüren und sie manchmal auch verändern.

Timm: Nun lebt Kino natürlich auch davon, dass man nicht alles mit dem Kopf zergliedert, sondern sich auch überlässt, von Leidenschaft. Gehen Sie eigentlich selber noch ohne zergliedernden Blick ins Kino oder können Sie gar nicht mehr richtig einfach geradeaus genießen?

Seel: Aber sicher. Außerdem ist … Man muss ja auch ein bisschen was tun. Also der Film versetzt uns in einen Zustand aktiver Passivität, wie ich das gerne nenne, das heißt, wir müssen uns überlassen, wir müssen uns mitnehmen lassen, gefangen nehmen und fesseln lassen, im günstigen Fall natürlich, und gleichzeitig müssen wir das ja auch verstehend und wahrnehmend und geistesgegenwärtig verfolgen. Und das, was uns in einer Geschichte bewegt, ist das eine, also die Figuren interessieren uns im günstigen Fall, wir haben gemischte Gefühle gegenüber verschiedenen Figuren, gleichzeitig ist es aber auch möglich, gefesselt zu sein von der Art der Inszenierung des Films.

Das schließt sich überhaupt nicht aus. Und das ist nichts Intellektuelles. Wenn wir noch mal an die Maisfeldszene denken, dann können wir diese Szene gar nicht verfolgen oder von ihr gar nicht gefangen sein, wenn wir nicht diese Gestik der filmischen Raumbildung mitverfolgen, und so bei vielen anderen Filmen auch, auch bei Blockbustern: Denken Sie an den "Fluch der Karibik", die verrückten Dinge, die da passieren, die kann man gar nicht nicht wahrnehmen. Und so auch bei anderen durchaus populären Filmen ist es immer beides: Die Faszination durch die Dramaturgie des Films unterstützt unsere Faszination durch die erzählte Geschichte.

Timm: Martin Seel über die Künste des Kinos, dazu hat er ein Buch geschrieben, das ist in der Wissenschaftsreihe des Fischer-Verlags erschienen. Vielen Dank fürs Gespräch!

Seel: Nichts zu danken! Wiederhören!

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