Dekadenzforschung in den Alpen

21.06.2007
Der italienische Physiologe Angelo Mosso ging am Ende des 19. Jahrhunderts in die Alpen, um dort zu studieren, was damals alle für die Zeitkrankheit schlechthin hielten: Die Ermüdung. Phillip Welsch rekonstruiert Mossos Feldforschungen und zeigt dabei, dass Wissenschaft auch immer vom jeweils herrschenden Zeitgeist beeinflusst ist.
Jahrhundertelang galt für das größte europäische Gebirge ein Wort des Römers Livius: "foeditas alpium", die Hässlichkeit der Alpen. Ihre Landschaft wurde, wie ein Theologe sich ausdrückte, als "das beste Beispiel für Konfusion in der Natur" wahrgenommen. Schnee, Geröll, Kälte - was sollte daran gut sein? Man fürchtete die namenlosen Berge und ihre Ödnis. Noch 1760, als Johann Joachim Winckelmann auf dem Weg zu seiner Italienreise war, verhängte er die Fenster seiner Kutsche, so schrecklich erschien ihm der Anblick der Eislandschaft.

Erst am Ende des 18. Jahrhunderts fing man an, die Berge erhaben zu finden. 1858 verzeichnet die Chronik dann schon zwanzig bis dreißig britische Mont Blanc Expeditionen pro Jahr. Der Tourismus hatte sich der Alpen bemächtigt, Reiseführer kamen auf den Markt, und die Leute gingen mit sogenannten "Claude-Gläsern" herum, braunen Handspiegeln, durch die das Panorama in die Farben der Ölbilder Claude Lorrains getaucht wurden. Man fand die Alpen nicht mehr hässlich, sondern malerisch.

Neben dieser uns vertrauten ästhetischen Erschließung des Gebirges gab es aber noch eine andere, kuriose und heute völlig unbekannte. Von ihr berichtet das Buch des Berliner Wissenschaftshistorikers Philipp Felsch. Früh nämlich waren Forscher auf die Idee gekommen, die Alpen als "Laboratorium" zu verwenden. Zunächst als Laboratorium der Natur, in dem man besondere geophysikalische Phänomene studieren könne. Dann aber auch als Laboratorium für Studien am Menschen.

Denn in höheren Lagen, merkten die Alpenreisenden, verändert sich die Leistungsfähigkeit des Körpers. Teils fand man, der Aufstieg am Berg mache betrunken, es erfasse den Wanderer Schwindel, teils fiel auf, dass die Alpen das ideale Gebiet für Ermüdungsstudien seien. Während vor allem die Briten auf die Berge rasten, um sich und allen anderen ihren energischen Charakter zu demonstrieren, begann die Forschung sich den Schattenseiten alpiner Körpererfahrung zuzuwenden.

Der Pionier dieser Alpenphysiologie war der italienische Wissenschaftler Angelo Mosso aus Turin. Er war dem Geheimnis der menschlichen Erschöpfbarkeit auf der Spur. Mit Pulsmessungen und Atemschreibern, "Ergographen" und "Plethysmographen". Alle seine Registrierinstrumente transportierte er ins Tiroler Monte-Rosa-Massiv. Er analysierte Schriftproben von Alpinisten und machte Belastungstest mit ihnen. Dabei war es die "Bergkrankheit", also höhebedingte Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, der er sich vor allem zuwandte.

Anders als diejenigen, die - für uns wenig überraschend - körperliche Erschöpfungszustände im Gebirge auf den dortigen Sauerstoffmangel zurückführten, hielt Mosso die Nerven für ausschlaggebend.

Mossos Beschäftigung mit der Bergkrankheit stand im Kontext der damals weitverbreiteten Dekadenz- und Niedergangsdiagnosen. Die "Ermüdung" war eine fixe Idee des fin de siècle. Pädagogen warnten vor der intellektuellen Überlastung der Schulkinder, der Erlanger Physiologe Wolfgang Weichardt versprühte in Klassenzimmern sogar ein "Ermüdungsserum", um zu beweisen, wovon schulische Leistungen abhängig seien. Arbeitswissenschaftler machten sich Sorgen um die Beschäftigten der Industriebetriebe, und allgemein wurden nervöse Erschöpfungszustände als Zeitkrankheit diagnostiziert.

Für Mosso war die Ermüdung der Bergsteiger der Schlüssel zum Phänomen "Ermüdung" überhaupt. Sie folge, so konstatierte er, nicht messbarer Arbeit. Vielmehr streike das Gehirn, lange bevor die Muskeln erschöpft seien. "Die Ermüdung wächst schneller als die Arbeit", hieß es. Das passte zu der merkwürdigen Mischung aus Materialismus und dem Glauben an dahintersteckende, mehr als nur chemische Wirkmächte, die damals im Schwange war. Der Mensch ist keine Maschine, sondern ein Nervenwesen - und eben das sollte durch maschinelle Aufzeichnungen zu beweisen sein. Philipp

Felschs Buch über die Alpenphysiologie zeigt insofern an einem Fall inzwischen widerlegter Forschung, wie stark sich Naturwissenschaftler von Metaphern und von ihren Apparaten beeindrucken lassen und wie viel Zeitgeist in ihre Versuche und deren Deutung eingeht.

Rezensiert von Jürgen Kaube

Philipp Felsch: Laborlandschaften. Physiologische Alpenreisen im 19. Jahrhundert
Wallstein Verlag, Göttingen 2007
252 Seiten, 29 EUR