Debüt von Exploded View

Musik für eine Welt ohne Konstanten

Die Musikerin Anika Henderson auf dem 16. Poesiefestival Berlin 2015
Die Musikerin Anika Henderson © imago/Mike Schmidt
Von Vanessa Wohlrath · 24.08.2016
Unsere Gesellschaft steht Kopf. Wie sollen Künstler darauf reagieren? Auf jeden Fall nicht mit Wohlklang, so Musikerin Annika Henderson aka Anika. Sie spiegelt die Welt, wie sie ist: lärmend, aggressiv, kaputt. Ihr neuestes Projekt: die Band Exploided View.
"Es passiert gerade so viel in unserer Gesellschaft. Wie soll man mit all diesen Ängsten umgehen? Man will doch darüber sprechen oder zumindest von anderen verstanden werden. Dass da jemand ist, der sagt: Ja, mir geht es genauso. Oder eine Erklärung liefert, warum diese Dinge passieren, oder irgendwas! Ich finde das wichtig, gerade jetzt."
Sagt Anika, halb englisch, halb deutsch, 29 Jahre alt, einen Tag nach dem Anschlag von Nizza. Die ehemalige Politikjournalistin hat schon auf ihrem Debüt von 2010 sozialkritische Songs gecovert – und Yoko Ono und Bob Dylan ein hypnotisches Dub-Make-over verpasst. Die düstere und eindringliche Stimme schien sich Anika von Christa Päffgen geliehen zu haben, besser bekannt als kalte Schönheit Nico bei The Velvet Underground.
Nach dem Debüt schrieb Anika Gedichte, versuchte sich als Filmemacherin und reiste mit ihrer experimentellen Musik durch die Welt: von England nach Nordamerika und weiter in den Iran. Früher wurde Anika von Geoff Barrow, Produzent und Mitglied von Portishead, unterstützt. Jetzt wollte sie selbst stärker den Kurs bestimmen, und gründete eine neue Band: Exploded View.

Langsamer Sprechgesang und industrielles Scheppern

Jagende Drones, industrielles Scheppern begleitet vom langsamen Sprechgesang – die Songs sind reine Improvisationen, unmittelbar aufgenommen – ohne irgendeine verschönernde Produktionspolitur. Eine entrückte Post-Punk-Mischung ist entstanden, dominiert von Songtexten, die sich an walisischer Dichtung und Spoken Word orientieren.
Anika verwendet dazu meist selbst verfasste Gedichte, zitiert aber auch Literaturklassiker, wie den Virginia-Woolf-Roman "Orlando".
"Es geht um diese nicht enden wollende Geschichte, wie sich der Körper und alles um ihn herum verändert, während er durch die Zeit reist. Wie viel Kontrolle haben wir eigentlich darüber, was um uns herum passiert? Machen wir einfach weiter und weiter? Ich meine, was bringt uns das? Ich finde diese Fragen zurzeit wichtig, gerade in Bezug auf die Jugend Europas. Es wurden so viele Ideale aufgebaut, Ideologien von Generation zu Generation weitergegeben, aber letztlich hat uns das alle nur verwirrt. Es gibt doch kaum noch richtige Konstanten, keine Verbindung mehr zu den einfachen Dingen im Leben."
Was will dieses Leben von uns? Eine Frage, die sich zurzeit nicht nur Anika stellt. Sie bewegt viele europäische Musiker um die 30. Die englische Spoken-Word-Künstlerin Kate Tempest beispielsweise zeichnet in ihren Stücken das Bild einer Generation, die längst aufgegeben hat. Der soziale Abstieg scheint unausweichlich, Eine Möglichkeit, aus dem Hamsterrad eines zerfallenden Europas auszusteigen, sieht Tempest nicht.

"Anstatt sich voneinander abzukapseln, sollten wir näher zusammenrücken"

Wer um 1985 in Westeuropa geboren wurde, schien das große Los gezogen zu haben. Aber jetzt gibt es wenig Anlass, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Bilder von Terror und Not sind allgegenwärtig. Die Werte und Grundeinstellungen junger Erwachsener – zum ersten Mal scheinen sie nicht mehr zur Realität zu passen. Die Folgen, sagt Anika: Angst Misstrauen, Isolation.
"Das alles führt meistens dazu, dass wir weiter gegeneinander spielen und uns isolieren. Die Leute haben Angst. Sie sehen diese Bilder im Fernsehen und denken: Oh, jetzt kann ich also gar keinem mehr trauen, der aussieht, wie der Täter im Video. Und das ist eigentlich das Schlimmste, das passieren kann. Anstatt sich voneinander abzukapseln, sollten wir näher zusammenrücken und diese Vorstellungen und Stereotypen abbauen."
Und genau diesen Gedanken verfolgt Anika mit Exploded View: Ängste und Erfahrungen miteinander zu teilen – in Form von Songs, die kaum mehr an musikalischen Konventionen festhalten, als Spiegel einer anscheinend instabilen Welt. Das ist ihr erschreckend gut gelungen.
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