Debattenkultur vs. rhetorische Tricks

Wenn nur "wahr" ist, was man selber glaubt

Unterstützer der Partei Alternative für Deutschland in Thüringen halten bei einer Demonstration der AfD in Erfurt Slogans auf Schildern in die Höhe.
Unterstützer der Partei Alternative für Deutschland in Thüringen halten bei einer Demonstration der AfD in Erfurt Slogans auf Schildern in die Höhe. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Von Daniel-Pascal Zorn · 05.03.2017
"Wahrheit" und "Fakten" scheinen zu inhaltsleeren Schlagwörtern von Populisten verkommen zu sein. Was tun? Wir müssen wieder unsere Urteilskraft ausbilden, mahnt der Philosoph Daniel-Pascal Zorn – und miteinander reden. Sonst landen wir im "geistigen Bürgerkrieg".
Wir leben in unsicheren Zeiten. Unser Wissen scheint in eine Krise geraten zu sein. Die Rede ist von "Lügenpresse" und "fake news", von "alternative facts", von 'postfaktisch' und von einem "System", das all das steuert und kontrolliert. Donald Trump und sein Berater Stephen Bannon betrachten die Medien als Oppositionspartei, als politischen Gegner. Sich selbst sehen sie als Vertreter der Wahrheit, die von der Gegenseite unterdrückt werden soll.

Die Begriffe "Wahrheit" und "Wirklichkeit" haben auch in Deutschland wieder politische Form angenommen. Wahr ist, was der eigenen Weltanschauung entspricht – wirklich ist, was die eigene Wirklichkeitsauffassung bestätigt. Parteien wie die AfD schreiben sich "Mut zur Wahrheit" und 'gesunden Menschenverstand' zu und erklären damit alle, die es anders sehen, zu pathologischen Lügnern.

"Postfaktisch" scheint eine Position also vor allem dann zu sein, wenn sie meint, Wahrheit habe keine Voraussetzungen und ließe sich mithin einfach so behaupten. Wie kommen wir aber heraus aus einen solchen gnadenlosen Relativismus, der, wenn er in die falschen Hände gerät, in krudesten Dogmatismus umschlägt?

Dialektischer Streit um die Wahrheit

Die Antwort lautet: Die Philosophie weist uns einen Weg – ist doch der dialektische Streit um die Wahrheit ihr Kernanliegen. Nicht umsonst klingt der AfD-Slogan "Mut zur Wahrheit" typisch philosophisch. Wer in der Philosophie den Mut zur Wahrheit aufbringen will, der scheut nicht den steinigen Weg, den die Wahrheitssuche oft mit sich bringt. Er ringt um diese Wahrheit, kritisch gegenüber allen allzu einfachen Antworten, kritisch auch und vor allem gegen sich selbst. Philosophischer Mut zur Wahrheit schließt so notwendig den Blick auf die eigene Herangehensweise mit ein. Nur wer hier mit einer Rechtfertigung überzeugt, kann den Anspruch erheben, eine Wahrheit formuliert zu haben.

Das ist aber offenbar nicht gemeint, wenn politische Parteien vom "Mut zur Wahrheit" sprechen. Sie zeichnen damit vielmehr ihre eigene Perspektive von vornherein als "Wahrheit" aus. Weil diesen Trick aber auch alle anderen beherrschen, stehen sich irgendwann Wahrheiten unversöhnlich gegenüber.

Was ist da los? Es ist, als ob uns, in relativ kurzer Zeit, das Wissen darüber abhanden gekommen wäre, wie wir unser Wissen über die Welt gewinnen. Der Grund hierfür ist auch, dass weite Teile der Medien Fachleute gezielt auf Thesen reduzieren, die im Talk aufeinanderprallen sollen. Das heißt, Wissenschaftler werden zu Orakeln, die uns letztgültige Wahrheit verkünden. Und wenn dann zwei dieser Orakel einander widersprechen, bekommt man von dem einen eben "facts" – und von dem anderen dann was? "Alternative facts"?

Rhetorische Tricks statt guter Gründe

Wir gehen mit Wissensinhalten so um, als wären es Spielkarten, die wir in einem Quartett gegeneinandersetzen. An die Stelle guter Gründe treten rhetorische Tricks. Debatte bedeute allein Redekampf, behaupten vor allem die Anwender dieser Tricks – einer gegen den anderen, Pro versus Contra, the winner takes it all. Natürlich gehört auch diese Redeform zu unserer Debattenkultur dazu. Aber sie ist eben nicht die einzige und meistens auch nicht die, die auf das Gemeinsame zielt. Wer sie als die einzig legitime setzt, darf sich nicht wundern, wenn das Gespräch im geistigen Bürgerkrieg endet.

Die Antwort der Philosophen auf diese Situation war zu allen Zeiten die gleiche: Bildung. Damit ist auch und vor allem gemeint: Die Ausbildung der eigenen Urteilskraft, der Fähigkeit, auf Gründe und Voraussetzungen zu reflektieren und sie ins Verhältnis zu denjenigen anderer zu setzen. Dass die Antwort stets die gleiche war, zeigt uns auch: Wir sind nicht allein. Wir können uns selbst und wir können einander helfen. Dafür müssen wir kein politisches Glaubensbekenntnis sprechen. Wir müssen einfach wieder damit anfangen, miteinander statt gegeneinander zu reden.
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