Debatte um sexuelle Vielfalt

"Wenige inszenieren sich als gesellschaftliche Mehrheit"

Schüler lernen im Geschichtsunterricht an einer Hauptschule in Arnsberg (Sauerland).
In Baden-Württemberg polarisiert das Thema sexuelle Vielfalt im Schulunterricht. © dpa / picture alliance / Fabian Stratenschulte
Sarah Speck im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 24.06.2015
Der Streit um den Aktionsplan gegen Diskriminierung von sexuellen Minderheiten in Baden-Württemberg ist auch ein Ausdruck der gesellschaftlichen Verunsicherung, meint die Soziologin Sarah Speck. Das Thema Sexualität habe eine einigende Funktion für konservative Gruppierungen.
Die Tübinger Soziologin Sarah Speck sieht in der Auseinandersetzung um den baden-württembergischen Aktionsplan gegen Diskriminierung von sexuellen Minderheiten auch einen Ausdruck der Verunsicherung. In Zeiten rapiden Wandels habe die kulturelle heterosexuelle Ordnung für viele Menschen eine Orientierungsfunktion, sagte Speck im Deutschlandradio Kultur:
"In Zeiten einer gesellschaftlichen Verunsicherung, die vielfach unter dem Stichwort Prekarisierung geführt wird, gibt es dann ein Bedürfnis nach klaren Identitäten. Die wird dann, je nach Milieu, in unterschiedliche Kategorien gegossen: also etwa nationalistische Kategorien oder eben auch in der Versicherung einer vermeintlich natürlichen Geschlechterordnung."
Das Thema Sexualität sei eng mit moralischen Vorstellungen verknüpft, meinte Speck:
"Dass eben bestimmte Sexualitäten als gesellschaftlich schädlich imaginiert werden. Und die versucht man dann auszuschließen oder abzuwehren."
Politische Funktion des Themas Sexualität
Das Thema des Umgangs mit sexuellen Minderheiten nehme eine politische Funktion ein, weil es ganz unterschiedliche gesellschaftliche Spektren einige, sagte Speck. Das werde deutlich, wenn man sich die Akteure auf den Demonstrationen anschaue:
"Die Proteste sind von wenigen, aber sehr wortgewaltigen Gruppen organisiert. Die sich wiederum als gesellschaftliche Mehrheit inszenieren. Es handelt sich um konservative Kräfte, christlich-fundamentalistische oder evangelikale Gruppierungen. Und auch die neue Rechte, also etwa die 'Junge Freiheit', die dort auch am Sonntag Flugblätter verteilt hat. Und diese einigende Funktion hat ansonsten fast nur das Thema Islam, würde ich sagen."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Es ist eigentlich nichts, was es nicht schon gäbe anderswo: Ein Aktionsplan für die Gleichberechtigung von sexuellen Minderheiten. Nordrhein-Westfalen, Bremen, Berlin, Schleswig-Holstein, dort gibt es das schon, was es nun auch in Baden-Württemberg geben soll. Ein Projekt der grün-roten Landesregierung, das allerdings im Südwesten auf ungeahnte Widerstände stößt. Warum eigentlich? Das wollen wir gleich klären im Gespräch mit der Tübinger Soziologieprofessorin Sarah Speck. Einen schönen guten Morgen!
Sarah Speck: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Wir haben gerade diese beiden Pole gehört. Da sagt der eine, es ist Sex, da sagt der Ministerpräsident, es ist etwas ganz anderes. Was ist es denn?
Speck: Es handelt sich auf jeden Fall um eine politische Auseinandersetzung um Lebensformen, also um sexuelle Vielfalt natürlich. Und da geht es auch um moralische Fragen und um die heterosexuelle kulturelle Ordnung von Geschlechtern.
Frenzel: Diese heterosexuelle kulturelle Ordnung, die Sie da gerade so beschreiben, ist die in Baden-Württemberg besonders stark? Ich habe es ja anfangs erwähnt, es gibt andere Bundesländer, da gab es eigentlich so gut wie keine Reaktion, und jetzt in Baden-Württemberg so viel. Ist man da doch noch konservativer?
Speck: Das mag möglicherweise der Fall sein, dass hier natürlich bestimmte Milieus stärker sind als in anderen Orten Deutschlands. Gleichwohl muss man sagen, dass die bundesweite Mobilisierung tatsächlich konservative und rechte Strukturen und Akteure einlädt, die bundesweit agieren und dann eben auch speziell nach Stuttgart dafür anreisen.
Frenzel: Dieser Widerstand, was ist der für Sie? Ist der Ausdruck einer Verunsicherung?
Bedürfnis nach klaren Identitäten
Speck: Das ist sicher als Form einer Verunsicherung zu verstehen. Man kann sich das aus sozialwissenschaftlicher Perspektive in etwa so vorstellen, dass eben diese kulturelle heterosexuelle Ordnung Orientierungsfunktionen hat, also das besonders in Zeiten rapiden gesellschaftlichen Wandels. Das heißt, in Zeiten einer gesellschaftlichen Verunsicherung, die vielfach unter dem Stichwort Prekarisierung geführt wird, gibt es dann ein Bedürfnis nach klaren Identitäten, die wird dann je nach Milieu in unterschiedliche Kategorien gegossen, also etwa nationalistische Kategorien oder eben auch in der Versicherung einer vermeintlich natürlichen Geschlechterordnung.
Frenzel: Also diese Menschen, die da auf die Straße gehen, sind die homophob, oder würden Sie so weit gar nicht gehen?
Speck: Ich glaube, dass man viele der Akteure auf der Straße sicherlich als homophob bezeichnen kann. Ich glaube, dass zwei weitere Gründe für diese Mobilisierung darin liegen, dass das Thema Sexualität eben so eng mit moralischen Vorstellungen verknüpft ist. Und dass eben bestimmte Sexualitäten als gesellschaftlich schädlich imaginiert, also vorgestellt werden. Und die werden dann versucht, auszuschließen oder abzuwehren.
Und drittens muss man eben aber auch sagen, dass das Thema insofern eine politische Funktion einnimmt, dass es eben ganz unterschiedliche Spektren einigt. Und das wird ganz deutlich, wenn man sich die Akteure auf den Demonstrationen anschaut. Also, das heißt: Die Proteste sind von wenigen sehr kleinen, aber sehr wortgewaltigen Gruppen organisiert, die sich als gesellschaftliche Mehrheit wiederum inszenieren. Es handelt sich um konservative Kräfte, es sind christlich-fundamentalistische, evangelikale Gruppierungen. Die AfD spielt eine große Rolle in dieser Kampagne oder in diesem Thema, in der Debatte. Und auch die neue Rechte, also etwa die "Junge Freiheit", die dort auch am Sonntag etwa Flugblätter verteilt hat. Und die vereinigende Funktion hat ansonsten fast nur das Thema Islam, würde ich sagen.
Wie politisch ist das Private?
Frenzel: Also eher die Ränder der Gesellschaft, die sich da versammeln, wenn ich Sie richtig verstehe. Aber was vielleicht mehr Menschen teilen, ist doch eine gewisse Skepsis, dass die Politik da versucht, doch irgendwie was zu regulieren, was ja sehr privat ist. Meinen Sie nicht, dass das mehr Menschen teilen, einfach auch aufgrund des Unwohlseins, dass eben das Private nicht politisch sein soll?
Speck: Ich glaube, dass das Private, also die Frage von Lebensführung selbstverständlich eine politische Frage ist. Inwiefern sich da der Staat einzumischen hat oder nicht, ist natürlich eine Frage, die stets aufs Neue wieder diskutiert wird. Aber ich denke, dass die Einschätzung, dass der Bildungsplan im Wesentlichen als Teil eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses zu verstehen ist und sich insofern an eine Realität anpasst, die vorhanden ist. Also es gibt bereits eine Vielfalt von unterschiedlichen Lebens- und Liebes- und Familienformen. Und die wird in diesem politischen Bildungsplan im Prinzip eingeholt.
Frenzel: Also was raten Sie der Politik dort in Baden-Württemberg und anderswo? Den Sturm aushalten und weiter voranschreiten, oder muss man da vielleicht doch ein bisschen zurückstecken und sagen, ja, wir haben verstanden, dass es auf jeden Fall auch Widerstände gibt, die man nicht so ganz wegdiskutieren kann?
Der Umgang mit den Ängsten
Speck: Ich glaube, man muss das Thema ernst nehmen, man muss auch zumindest aus sozialwissenschaftlicher Perspektive natürlich ernst nehmen, was dort passiert. Aber sich vor allem anschauen, was sich dort Bahn bricht und Ausdruck verschafft. Ich glaube, ein solcher Umgang mit Ängsten der Bevölkerung, also indem man dem sofort nachgibt, ist nicht unbedingt förderlich. Zumal solche antidemokratische Affekte, wie sie sich dort breit machen, also, die Behauptung, man wird von oben bevormundet oder so, auch kein neues Phänomen ist. Ich glaube, dass man die Debatte ernsthaft beobachten muss, aber dass es keinen Grund gibt, den Bildungsplan zurückzuziehen.
Frenzel: Baden-Württemberg streitet über die Gleichstellungspolitik von Grün-Rot. Die Tübinger Soziologieprofessorin Sarah Speck war das im Interview. Vielen Dank dafür!
Speck: Vielen Dank, Herr Frenzel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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