Debatte um Flüchtlinge

Migration schafft Innovation

Professionelle Programmierer arbeiten am 24.10.2015 in Berlin während des Refugee Hackathon ehrenamtlich an der Applikation Waslchiraa. Der arabische Name bedeutet im Deutschen Gutschein. Die App hat zum Ziel, Firmen die sich in der Flüchtlingskrise engagieren und Sachgüter spenden wollen mit den Spendennehmern zusammenzubringen.
Professionelle Programmierer arbeiten während des Refugee Hackathon ehrenamtlich an der Applikation Waslchiraa. Die App hat zum Ziel, Firmen die sich in der Flüchtlingskrise engagieren und Sachgüter spenden wollen mit den Spendennehmern zusammenzubringen; © dpa / Klaus-Dietmar Gabbert
Von Margaret Heckel · 16.11.2015
Ob Online-Sprachkurse oder Notunterkünfte aus Holz: Die Ankunft Tausender Flüchtlinge, so die Berliner Journalistin Margaret Heckel, inspiriere zu Innovationen, die auch Bereiche "Bildung" und "Wohnungsbau" schon lange nötig hätten.
"Kiron" heißt die Online-Universität, die zwei Mittzwanziger für Flüchtlinge gegründet haben. Zwei Jahre lang kann dort jeder lernen – erst virtuell mit Hilfe der Programme bekannter Universität. Im dritten Jahr wird ganz regulär auf einem Campus eigener Wahl studiert. Der große Vorteil: Lernwillige müssen nicht abwarten, bis ihre Qualifikationen anerkannt werden. Sie können sofort loslegen.
In Hannover testet ein Architekturprofessor mit seinen Studenten gerade drei Prototypen, um preiswerten Wohnraum aus Holzelementen auf den Flachdächern der Universität zu bauen.
Beim "Refugee-Hackathon" haben Ende Oktober knapp 300 Programmierer gemeinsam an Übersetzungs-Apps für Flüchtlinge gearbeitet.
Das sind nur drei Beispiele, wie Menschen in Deutschland kreativ reagieren und Neues schaffen. Sie tun damit etwas, was nicht nur unmittelbar hilft, sondern das Land auch langfristig voranbringen wird. Indem sie an innovativen Lösungen arbeiten, verbinden sie das Notwendige mit dem Sinnvollen.
Hilfe für Flüchtlinge bringt neue Ideen hervor
Denn die so angenehmen Jahre des Wirtschaftswachstums haben uns auch träge werden lassen. Warum etwas verändern, was gut läuft? Nun aber ist die Krise da. Die Krise? Da fängt es schon an! Wir sollten besser von Herausforderung sprechen - und wir sollten sie nutzen.
Schneiden wir endlich die alten Zöpfe ab, die uns schon immer geärgert haben. Warum sollen Flüchtlinge Vokabeln auf Karteikarten lernen, wenn es mit dem Smartphone per App nicht nur leichter, sondern auch schneller geht?
Welchen Sinn macht es, die Ankommenden mehrfach und meist mit unterschiedlichen Formularen immer wieder neu zu registrieren anstatt gleich beim ersten Mal digital? Klar, sie sind schon zu hören, die Bewahrer des Status Quo.
Digitale Flüchtlingsidentifikation? Geht nicht, sagen sie. Der Datenschutz! Schneller bauen, mit Holz oder unkonventionellen Materialien? An ungewöhnlichen Orten wie beispielsweise auf Millionen Flachdächern in deutschen Städten? Geht nicht, sagen sie. Die Baugesetze und die Energiesparstandards! Flüchtlingen über Praktika, die länger als drei Monate dauern, in Jobs vermitteln? Geht nicht, sagen sie. Die Mindestlohn-Regeln dürfen nicht angetastet werden!
Wer so argumentiert, verkennt, wie Neues in die Welt kommt. Innovatoren sind dann erfolgreich, wenn sie Dinge radikal anders machen. Hierzulande gab und gibt es glücklicherweise viele dieser Kreativen. Wir sollten sie ermuntern und stärken, statt sie zu begrenzen. Gerade jetzt könnte ihre beste Stunde schlagen.
So lassen sich Bildung und Wohnen voranbringen
Bildung und Wohnen sind zwei der wichtigsten Bereiche für die Integration der Flüchtlinge. Doch in beiden sind wir hierzulande nicht an der Spitze des Fortschritts: In angelsächsischen Ländern lernen Menschen aller Altersklassen in so genannten Massive Online Open Courses. Sie werden von den besten Lehrern an den besten Universitäten angeboten und sind fast immer kostenlos online.
Bei deutschen Universitäten ist da meist Fehlanzeige. Natürlich brauchen wir weiter Sprachlehrer. Aber die ersten 100 Wörter kann sich jeder selbst über sein Smartphone und das kostenlose Google Übersetzerprogramm beibringen, Aussprachetraining inklusive.
Beim Bauen ist Deutschland inzwischen so überbürokratisiert, dass wir die längsten Bauzeiten und höchsten Kosten weltweit haben. In den Niederlanden oder Kanada wird mit Holz- und Systembauweisen oder dem Einsatz neuer technischer Hilfsmittel wie 3-D-Druckern schneller und preiswerter gebaut.
Nutzen wir also die Gelegenheit, um Platz für Neues zu schaffen. So helfen wir den Flüchtlingen. Und wir bringen das Land voran. Für unsere Kinder und Kindeskinder.
Margaret Heckel, Jahrgang 1966, studierte Volkswirtschaft in Heidelberg und den USA. Bevor sie sich 2009 als Journalistin selbstständig machte, war sie Politikchefin der "Welt", "Welt am Sonntag" und "Berliner Morgenpost". Davor leitete sie das Politikressort der "Financial Times Deutschland" und hat für die "Wirtschaftswoche" aus Leipzig, Berlin und Moskau berichtet.
Publizistin Margaret Heckel
Publizistin Margaret Heckel© Michael Lüder
Ihre politischen Erfahrungen hat sie in dem Bestseller "So regiert die Kanzlerin verarbeitet". Besonders gern beschäftigt sie sich mit dem demografischen Wandel. Ihr Buch "Die Midlife-Boomer: Warum es nie spannender war, älter zu werden" ist im Mai 2012 bei der Edition Körber-Stiftung erschienen. "Aus Erfahrung gut - wie Ältere die Arbeitswelt erneuern" folgte im September 2013 ebenfalls dort. www.margaretheckel.de.