Debatte über zu viele Studenten

Das Studium als "absolut sichere Bank"

Zur Einführungsvorlesung am traditionellen Campustag haben sich im Auditorium Maximum der Universität Rostock mehr als 500 Studenten eingefunden.
Studierende im Auditorium Maximum an der Universität Rostock © dpa / picture alliance / Bernd Wüstneck
Dieter Dohmen im Gespräch mit Nana Brink · 12.10.2015
Gibt es hierzulande einen "Akademisierungswahn"? Der Bildungsforscher Dieter Dohmen hält die Debatte über zu viele Studenten an den Unis für völlig verfehlt. Die akademische Ausbildung sei derzeit und auch in Zukunft die beste Vorbereitung auf die Arbeitswelt.
Das Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie hält die Debatte über zu viele Studenten an deutschen Hochschulen für grundfalsch. Institutsdirektor Dieter Dohmen sagte im Deutschlandradio Kultur, der Arbeitsmarkt für Akademiker sei nach wie vor hervorragend, die Arbeitslosenquote betrage nur 2,4 Prozent. Insofern sei das Studium derzeit - "und in Zukunft wahrscheinlich noch mehr" - eine "absolut sichere Bank". Bis zum Jahr 2030 würden jedes Jahr Hunderttausend mehr Akademiker gebraucht als den Arbeitsmarkt verließen, betonte er. Richtig sei an der Debatte allein, "dass die Unternehmen große Schwierigkeiten haben, Auszubildende zu finden", sagte Dohmen: "Das liegt aber nicht daran, dass so viele studieren, sondern das liegt daran, dass wir 20 Prozent der jungen Menschen aus den Schulen entlassen, ohne dass sie richtig rechnen, lesen und schreiben können."

Das Gespräch im Wortlaut:
Nana Brink: Wie war noch der Spruch, den ich in den Ohren hatte? Kind, du musst studieren, dann bist du auf der sicheren Seite im Leben. Mal ganz abgesehen davon, dass das früher schon nicht gestimmt hat – siehe die ganzen taxifahrenden Germanisten – scheint sich dieser Mythos aber hartnäckig zu halten.
Mehr noch: Noch nie waren Universitäten so begehrt. Fast 2,7 Millionen Studenten haben wir an den deutschen Hochschulen, davon immer knapp 500.000 Erstsemester. Die Beliebtheit der akademischen Bildung lag im Wintersemester 2014/2015 sogar auf Rekordniveau. Und der Run auf die Universitäten, der reißt auch pünktlich zum heutigen Semesterbeginn des Wintersemesters nicht ab. 420.000 prognostiziert das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie.
Dieter Dohmen leitet das Forschungsinstitut und berät derzeit die Regierung und einige Ministerien auch in diesen Bildungsfragen. Ich grüße Sie, Herr Dohmen!
Dieter Dohmen: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Ist das ein Trend, der sich fortschreibt – wer kann, der studiert?
Dohmen: Ganz so ist es nicht. Das eine ist, ja, wir haben ein Rekordhoch bei den Studienanfängerzahlen in den letzten Jahren gehabt. Das war aber eine Ausnahmesituation. Wir hatten die doppelten Abiturjahrgänge, wir hatten die Aussetzung von Wehr- und Zivildienst. Die Zahlen werden sich nach unserer Prognose nicht fortsetzen.
Es geht jetzt langsam, aber sicher weiter runter. Allerdings, das sollte man im Hinterkopf haben, die Flüchtlinge, wie viele von denen studieren, können wir im Moment noch nicht genau sagen. Das könnte den Trend etwas anders laufen lassen.
Brink: Warum ist das dennoch so, dass so viele junge Menschen an die Unis streben.
Die Arbeitslosenquote bei Akademikern liegt nur bei 2,4 Prozent
Dohmen: Also eins, der Arbeitsmarkt für Akademiker ist hervorragend. Wir haben eine Arbeitslosenquote von 2,4 Prozent. Die ist niedriger als bei allen anderen Berufsgruppen, abgesehen von den Meistern. Insofern ist das Studium nach wie vor – und in Zukunft wahrscheinlich sogar noch mehr – eine absolut sichere Bank.
Dazu kommt, dass wir ja viele aus dem Ausland dazu kommend haben, das heißt, es gibt eine überproportionale Zahl, die kommt aus dem Ausland und studiert dann hier.
Brink: Sie sind ganz begeistert über die hohe Anzahl. Allerdings, diese Begeisterung teilen ja überhaupt nicht alle. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel zum Beispiel hat ja vor einem Akademisierungswahn erst kürzlich gewarnt, nach dem Motto, nur wer studiert, kommt im Leben weiter. Wie sehen Sie das?
Dohmen: Ich halte die Diskussion für vollkommen verfehlt. Wir brauchen mehr Akademiker, bis zum Jahr 2030 allein drei Millionen insgesamt. Das heißt, pro Jahr brauchen wir 100.000 Akademiker mehr, als den Arbeitsmarkt als Akademiker verlassen.
Richtig ist, dass die Unternehmen große Schwierigkeiten haben, Auszubildende zu finden. Das liegt aber nicht daran, dass so viele studieren, sondern das liegt daran, dass wir 20 Prozent der jungen Menschen aus den Schulen entlassen, ohne dass sie richtig rechnen, lesen und schreiben können.
Brink: Aber dann frage ich mich dennoch, warum die Diskussion ja so vehement auch, auch mit solchen harten Bandagen, geführt wird. Ich zitiere nur mal den ehemaligen SPD-Kulturstaatsminister, Julian Nida-Rümelin, der hat ein ganz interessantes Interview gegeben. Darin hat er gesagt, das ist einfach ein Irrtum, zu meinen, dass der Hauptbedarf auf dem Arbeitsmarkt im Bereich der akademisch Gebildeten liegt. Warum sehen Sie das so ganz anders?
Dohmen: Weil in meinen Augen Herr Nida-Rümelin eine Politik fährt, die auf falschen Zahlen basiert und auf falschen Prognosen basiert. Er nimmt sich einen Teil der Zahlen, die ihm gerade passen.
Richtig ist, dass für das Arbeitsministerium eine Forschergruppe prognostiziert hat, wir brauchen mehr. Das Gleiche gilt auch für Prognos. Das ist in meinen Augen völlig falsch. Dazu kommt, er fokussiert das Hoch der Studienanfänger in den letzten Jahren. Und das ist richtig. Er übersieht aber, dass das in den nächsten Jahren nicht so bleiben wird.
Brink: Aber Sie selber müssen doch trotzdem einräumen, dass es mangelnde Fachkräfte gibt, über die die Wirtschaft klagt. Die klagt ja nicht aus heiterem Himmel so.
Die Wirtschaft klagt auf der falschen Grundlage
Dohmen: Aber sie klagt auf der falschen Grundlage insofern, das habe ich eben mal ganz kurz erwähnt, als dass unser Problem nicht die Verteilung zwischen Akademikern und beruflich Qualifizierten ist, sondern unser großes Problem ist, dass wir zu viele Jugendliche haben, die nicht ausbildungsfähig sind. Und die würden bei den kleinen und mittleren Betrieben landen, die damit überfordert sind. Und gleichzeitig haben die kleinen und mittleren Betriebe das Problem, dass sie sich auf dem Wettbewerbsmarkt für Nachwuchs bei den Auszubildenden schlecht positionieren können.
Also insofern hat die Diskussion einen richtigen Kern. Die Betriebe suchen Auszubildende und finden zu wenig. Das liegt aber nicht daran, dass zu viele studieren, sondern, wie gesagt, viel zu viele nicht richtig rechnen, schreiben und lesen können.
Brink: Liegt das Problem nicht auch ein bisschen daran, wir sind ja auf der einen Seite immer so stolz auf unser duales Bildungssystem, und die Trennung zwischen Theorie und Praxis – also Theorie ist ja die Uni, Praxis ist der Betrieb. Ist das nicht auch ein Hemmnis oder ein Problem, das wir verkannt haben lange?
Dohmen: Das muss man nicht auseinanderdividieren. Es gibt duale Studiengänge, bei denen Sie Theorie und Praxis haben, die Fachhochschulen sind deutlich stärker praxisorientiert als die Universitäten. Man könnte diesem Trend insofern entgegenwirken, als dass man viel mehr duale Studiengänge und die Fachhochschulen noch weiter ausbaut.
Das ist im Übrigen auch eine Forderung von Nida-Rümelin. Da, wo ich ihm nicht zustimme, ist, dass das Universitätsstudium dann mal wieder ein Studium für die besten zehn Prozent der Gesellschaft wird.
Der Trend, wie gesagt, mehr zur Praxis, ist absolut richtig. Das kann man aber auch in einem Hochschulstudium. Und wir müssen einfach uns darüber im Klaren sein, dass die Anforderungen immer höher werden. Wir reden über Industrie 4.0. Kein Mensch weiß, was das für das Bildungssystem heißt und für die Anforderungen.
Insofern ist, und da bleibe ich dabei, ein Studium weiterhin die beste Voraussetzung für ein erfolgreiches Erwerbsleben. Und eine Zahl noch: Wenn die Unternehmen jammern, dann kann ich das einerseits nachvollziehen. Auf der anderen Seite: Warum studieren dann jedes Jahr 100.000 Menschen, die vorher eine Berufsausbildung gemacht haben?
Denen reicht also offenkundig die berufliche Ausbildung für ihren weiteren Lebensweg nicht aus. Und offenkundig sind die Karriereaussichten in vielen Bereichen dann doch nicht so toll, wie man es gerne hätte.
Brink: Sie haben anfangs gesagt, wir brauchen eher mehr Studierende als weniger. Das habe ich jetzt so als Resümee aus diesem Gespräch mitgenommen. Wie viele der zu uns kommenden Flüchtlinge sind denn potenzielle Studenten? Können Sie da was sagen?
Nach Schätzungen werden Hunderttausende der Flüchtlinge studieren
Dohmen: Genaue Zahlen haben wir nicht. Das liegt teilweise daran, dass noch nicht alle registriert sind, das liegt zum Teil daran, dass es unterschiedliche Systeme gibt. Die Schätzungen sagen, dass etwa 15 bis 16 Prozent bereits studiert haben und weitere 15 bis 16 Prozent eine Zugangsberechtigung haben.
Das heißt, je nachdem, von welchen Zahlen man ausgeht, sind das schon einige Hunderttausend, die an die Unis sukzessive drängen könnten, zum Teil, um ihre Kenntnisse anzupassen, zum Teil aber, um auch hier zu studieren.
Aber das wird eine Zeit dauern. Ich gehe im Moment für dieses Jahr davon aus, dass es vielleicht 10.000 oder 20.000 sein könnten. In den kommenden Jahren könnte der Trend aber deutlich nach oben gehen, wenn dann die Sprachkenntnisse vorher dabei sind und wenn das Bafög greift et cetera.
Brink: Dieter Dohmen vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie. Danke für Ihre Zeit!
Dohmen: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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