Debatte über kulturelle Identität

Intellektuelle, traut euch was!

Bunte Figuren an einem Kinderspielplatz.
An der pluralistischen Gesellschaft führe kein Weg vorbei, so Daniel Hornuff. © Imago / Chromorange
Von Daniel Hornuff · 11.04.2016
Ausgerechnet prominente Intellektuelle seien dafür verantwortlich, dass eine populistische Sprechweise in Deutschland wieder salonfähig werde, sagt der Kunstwissenschaftler Daniel Hornuff. Er wünscht sich einen angemesseneren Umgang mit unserer komplexen Realität - gerade in Zeiten der Flüchtlingskrise.
Es scheint eine ausgemachte Sache zu sein: Deutschland erlebt eine Flüchtlingskrise. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass die Menschen, die aus dem Süden kommen, durch Flucht und Vertreibung in Existenzkrisen geraten sind. Vielmehr sollen es die Flüchtlinge sein, die das Leben der Ortansässigen in eine krisenhafte Situation treiben.
Einerseits gehört ein solches Lamento zur üblichen Wohlstandsarroganz prächtig situierter Mitteleuropäer. Andererseits ist diese Klage ein Humus, aus dem nationalistische Bewegungen ihre Energien ziehen. Aus allen Ecken ist daher zu hören: Wir müssen die Sorgen der hier lebenden Menschen ernst nehmen. Gemeint ist aber: Wir heizen Eure Sorgen an, um aus ihnen politisches Kapital zu schlagen.

Die Komplexität der Wirklichkeit

Echte Lösungen bleiben aus – aus nachvollziehbaren Gründen: es gibt sie schlechterdings nicht. Niemand weiß die Flüchtlingsfrage in gleichem Maß sozial ausgewogen, politisch umsichtig, wirtschaftlich vernünftig, theologisch sensibel und kulturell angemessen zu beantworten. Unser Alltag, unsere Ansprüche und unsere Politik werden mit der Komplexität moderner Wirklichkeit konfrontiert.
Und genau hier setzen Populisten an: Sie skandalisieren das Komplexe, erklären es zur Gefahr und prangern das Versagen des politischen Establishments an. Konstatiert wird eine Verblendung, eine irregeleitete Wahrnehmung, eine allgemeine Überforderung. Und reagiert wird mit dem Ruf nach dem gesunden Menschenverstand. Folglich votiert man für Grenzschließungen, erwägt Schießbefehle oder hebt den Asylmissbrauch hervor.
Doch wer sich auf den gesunden Menschenverstand beruft, nimmt für sich das Wahre und Richtige in Anspruch, rühmt sich gar eines "Mutes zur Wahrheit", wie die AfD es tut. So wird Komplexität aufgespalten, in Wahrheit und Lüge geteilt. Und der Hang zur Lüge wird den anderen attestiert, vor allem Medien, etablierter Politik, fremden Kulturen und Glaubensrichtungen.

Identität durch Nation und Kultur gerät zur Verklärung

Dies gelingt aber nur, solange ein kollektives Selbst beschworen wird, also die kulturelle Identität einer Nation. Daraus wiederum folgt die Warnung an eine westliche Wertegemeinschaft, erneut vor dem Untergang des Abendlandes zu stehen.
Doch die Zeit der homogenen Gebilde ist vorbei – und bietet allenfalls noch Stoff für eine politische Romantik. Wer Volk und Nation auf einen kulturellen Nenner bringen will, öffnet die Tür zu einer Blut- und Boden-Ideologie. Ein Denken in Identitäten wendet sich gegen das, was es zu erkämpfen vorgibt: gegen Menschen- und Bürgerrechte.
Sollte es je homogene Gesellschaftsformen gegeben haben, so sind diese längst durch transnationale Lebensräume abgelöst worden. An der pluralistischen Gesellschaft führt kein Weg mehr vorbei, allein deshalb nicht, weil sie zutiefst mit der Lebenspraxis von Millionen Menschen verbunden ist.

Intellektuelle müssten Widersprüche aushalten können

Intellektuelle, besonders Philosophen, sollten Experten darin sein, mit solchen Komplexitäten und ihren Widersprüchen umzugehen. Schließlich haben sie verinnerlicht, dass die nächstliegende Antwort nur selten die beste ist. Aus dem identitären Denken spricht demzufolge ein Herrschaftsgeist.
Richten sich Intellektuelle in ihm ein, halten sie sich rasch für die Cheferklärer der Nation. Gefragt wäre dagegen ein Typus, der die intellektuelle Kraft besitzt, jenseits von Identitäten und homogenen Gebilden zu denken – und der den Mythos von der kulturellen Einheit durch ein Lob der Vielfalt ersetzt.
Doch ein solches Denken ist wagnisreich und ungewiss. Es benötigt eine oft vergessene Kompetenz: die Fähigkeit, soziale Komplexität auszuhalten. Diese als Kulturtechnik kenntlich zu machen, könnte Aufgabe öffentlicher Intellektueller sein.

Daniel Hornuff, geboren 1981, vertritt derzeit eine Professur für Kunstwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Komparatistik, Kunstwissenschaft und Philosophie promovierte er 2009 und habilitierte sich 2013. Er hatte etliche Lehraufträge inne und legte zahlreiche Publikationen zu Themen der Kunst- und Kulturgeschichte vor.

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