Debatte über Islam

Nationale Identität, die Europa spalten will

Kreuzworträtsel mit dem Wort Islam
Kreuzworträtsel mit dem Wort Islam © imago / Steinach
Von Zafer Şenocak · 04.05.2016
Türkische Islamisten und europäische Rechte hätten etwas gemeinsam: Sie wollten mit Identitäten und Nationalgefühl die säkulare Demokratie durch feindliche Blöcke ersetzen, meint der Schriftsteller Zafer Şenocak. Politik müsse sich dem mit klarer Sprache widersetzen.
Frauke Petrys Alternative für Deutschland und Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung sind keine Gegner. Sie gehören zusammen und sind Partner auf dem Weg in ein neues Europa, das von Nationalgefühlen geprägt ist. Die stramm konservativen Muslime der Türkei und die alternativen Rechten Europas sind die beiden Seiten einer Medaille.
Sie werden sich rhetorisch gegenseitig aufschaukeln und am Ende alle Brücken einreißen, nicht nur zwischen einem christlichen Abendland und einem islamischen Morgenland, sondern zwischen gesellschaftlichen Gruppen quer über den Kontinent, in Deutschland nicht anders als in der Türkei.

Konservative Christen und Muslime fürchten die Moderne

Neulich hielt Erdoğan eine Rede vor Imam-Anwärtern. Denn Erziehung versteht er in erster Linie als eine religiöse Erziehung, damit in der Türkei eine fromme Jugend heranwachse. Und gerade deswegen wird er von den meisten Muslimen sehr geschätzt. Sie wollen ihre Werte geschützt wissen vor dem Zugriff libertärer Gesellschaften, vor dem Zugriff der Moderne. Das geht auch konservativen Christen so, besonders jenen, die Anhänger der AfD sind.
Mit muslimischem Vorzeichen allerdings bekommt diese Abwehr einen aggressiven Unterton, der missionarischem Eifer entspringt. Imame sollen die Welt besser machen, nicht nur die muslimische Gesellschaft, nein, gleich die ganze Welt. Inzwischen sind Erdoğan und seine AKP weit in das islamistische Lager gerückt und haben die Türkei als säkulare Bastion in der islamischen Welt ins Wanken gebracht.
Wer will es den Deutschen verübeln, dass sie dieser religiös geprägten, auswärtigen Kulturpolitik Ankaras misstrauen?
Anderseits ist die Türkei ein wichtiger Partner in den Regionen des Nahen und Mittleren Ostens, ein Bündnispartner an der Südostflanke Europas. Und sie ist ein starkes, zukunftsfähiges Land. Wie es sich entwickelt, können Europäer und Amerikaner nicht einfach außer Acht lassen, da sie sich mit den Türken schon lange zusammengetan haben, im Ernstfall gemeinsam Sicherheit, Wohlstand und Werte zu verteidigen.

Klare Politik muss Brücken zur säkularen Gesellschaft erhalten

Doch wie spricht man mit Islamisten, die demokratisch gewählt sind? Es muss eine klare Sprache her – und eine Politik, die verhindert, dass Brücken mutwillig beschädigt oder gar eingerissen werden. Eine solche Brücke führt zum säkularen Teil der türkischen Gesellschaft. Mindestens ein Drittel von ihr möchte keine Herrschaft der Religion über den Staat, vielleicht auch keine des Staates über die Religion.
Hardliner nehmen gesellschaftliche Spaltung nicht wahr. Sie sehen darin nichts Produktives. Entdecken in Krisen keine Chance. Sie vertrauen nicht auf Brücken. Wollen keinen Dialog, sondern eine harte Grenze zwischen den Kulturen ziehen und die eigenen Ufer befestigen.
So wie Recep Tayyip Erdoğan aus einer Tradition kommt, die Europa als Christenclub ansieht, so verorten Europäer, die Türkei tief in einem antidemokratischen, rückständigen islamischen Block. Vergessen sind die Zeiten, als eine junge, reformfreudige AKP für sich das Vorbild von CDU und CSU in Anspruch nahm.

Säkulare Identität fürchtet das Fremde nicht

Tatsächlich braucht der Mensch heute mehr denn je Heimat. Grenzen haben wieder Konjunktur - solche, die schützen und bewahren vor Globalisierung und Mobilität. Türkische Islamisten und europäische Rechte sind sich einig. Sie wollen die eigene Identität stärken. Sie denken identitär.
Doch was sagen die jeweils anderen dazu? Wie denken diejenigen, die ausgeschlossen werden sollen, erst aus der Identität und dann aus der Gesellschaft?
Eine Politik, die abendländische und morgenländische Brücken erhalten will, nähme den Dialog mit jenen auf, die von Frauke Petrys Alternative für Deutschland und von Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung zu Gegnern erklärt worden sind. Denn es gilt, das Versprechen säkularer Demokratie einzulösen, dass niemand deswegen um die eigene Identität fürchten muss, weil er Meinung, Kultur und Religion der Anderen zu respektieren hat.

Zafer Şenocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf, studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin.

Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache und schreibt regelmäßig für Tageszeitungen. 1998 erhielt er den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift Sirene wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben.
Veröffentlichungen u.a.: "Gefährliche Verwandtschaft. Roman" (1998), "Der Erotomane. Ein Findelbuch" (1999), "Atlas des tropischen Deutschland. Essays" (1992/1993), "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas. Essays" (1994), "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation" (2001), "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch" (2006), "Deutschsein - Eine Aufklärungsschrift" (Edition Körber-Stiftung, 2011), "In deinen Worten, Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters" (2015).

Der Schriftsteller Zafer Senocak
© imago images / Horst Galuschka
Mehr zum Thema