DDR und Ostalgie

Versäumte Debatten

Teilnehmer des 13. Internationalen Ostblock-Fahrzeugtreffens sind auf dem ehemaligen Armeegelände bei Pütnitz (Mecklenburg-Vorpommern) unterwegs. Es nahmen insgesamt etwa 2.500 Fahrzeuge an dem nostalgischen Treffen teil.
Teilnehmer des13. Internationalen Ostblock-Fahrzeugtreffens in Pütnitz im Juli 2014 © dpa / picture alliance / Jens Büttner
Von Stephan Hilsberg · 08.04.2015
Kaputte Innenstädte, technologischer Rückstand, nur wenige Fremdsprachen: Die DDR ließ gesellschaftliche Debatten darüber nicht zu. So hätten die Ostdeutschen ihre Benachteiligung nie wirklich reflektiert, sie aber dennoch tief verinnerlicht, meint der Publizist Stephan Hilsberg.
Wie sehr die DDR noch heute nachwirkt, wird deutlich, wenn man sich der Themen erinnert, die damals die Ostdeutschen bewegt haben, und sich zugleich Debatten vorstellt, die leider nicht geführt worden sind.
Auch in Zeiten der SED-Diktatur gab es unabhängige Meinungen und Ansichten – und natürlich politische Gespräche darüber. Doch ihre Grenzen waren eng gezogen. Der Meinungsaustausch im kleinen Kreise, in der Familie, unter Freunden oder Kollegen ersetzt ja keinen öffentlichen Diskurs.
Diskutiert wurde über Zwangskollektivierung und Verstaatlichung, über den Ulbrichtschen Mauerbau, den russischen Einmarsch in Prag, die Machtübernahme Erich Honeckers, über die Weltfestspiele 1973, die Ausbürgerung Wolf Biermanns und den Hausarrest für Robert Havemann, das Verbot der russischen Zeitschrift "Sputnik", über Wohnungsnot und Plattenbausiedlungen, Perestroika und Glasnost.
Vieles hätte in der DDR gesellschaftsweit erörtert werden müssen
Vieles jedoch wurde nur lokal zur Kenntnis genommen, was unbedingt hätte gesellschaftsweit erörtert werden müssen – wie der Zerfall der Innenstädte, die Ausreisebewegung, die rechten Tendenzen und die Ausländerfeindlichkeit, das Baumsterben im Erzgebirge, die Umweltlasten der Braunkohletagebaue oder die Luftverpestung der chemischen Großbetriebe.
Die SED ließ öffentliche Debatten nicht zu. Und dieses Defizit konnten selbst innerkirchliche Foren nicht ausgleichen, auf denen viel kritischer als anderswo nachgedacht wurde – im Rahmen der Friedensdekade "Schwerter zu Pflugscharen" oder der Umweltbewegung.
Doch wer sorgte sich um den technologischen Rückstand der DDR? Wer redete über den Niedergang des Maschinenparks der Industrie? Wer über die viel zu niedrige Investitionsquote? Wer setzte sich mit den geringen Mieten auseinander, die zur Folge hatten, dass Innenstädte verkamen und öffentliche Infrastruktur vernachlässigt wurde?
Die fatale staatliche Preispolitik konnte durchaus Gesprächsthema werden, wenn Brote an Schweine verfüttert wurden, weil sie so billig waren, wenn Importautos wie Golf oder Volvo exorbitant teuer gemacht wurden. Und auch an den Privilegien der Kader störte sich die einfache Bevölkerung.
"Pegida" und "AfD" als Spätfolgen der SED-Diktatur
Nur, wer regte sich öffentlich über Mängel in der Bildung auf? Wer darüber, dass Fremdsprachen nicht gepflegt wurden, dass überhaupt die Geisteswissenschaften, die Allgemeinbildung in Geschichte und Philosophie, Wirtschaft und Religion weit unter das beachtliche Niveau der naturwissenschaftlichen Fächer gesunken war?
Diskurse zu all diesen Themen sind für uns und unsere europäischen Nachbarn selbstverständlich. Doch damals wurde nicht darüber gestritten, dass das eigene Land hoffnungslos dem Westen unterlegen war, wurde nicht gefragt, welche Nachteile es brachte, dass die SED den Bürgern eine offene Gesellschaft und eine echte Demokratie vorenthielt.
Die Ostdeutschen haben diese gesellschaftlichen Nachteile ja nicht einmal wahrgenommen, geschweige denn reflektiert, obwohl sie einem jeden ins Unterbewusstsein eingedrungen waren, mit dem Ego und der Identität verschmolzen. Heute, 25 Jahre nach der friedlichen Revolution, interessieren die versäumten Debatten der untergegangenen DDR niemanden mehr, zumal sich Ostalgie über die Erinnerung gelegt hat.
Doch nur wer sich recht erinnert, wird sich einen Reim auf den Straßenproteste der "Pegida" und den Wahlerfolg der "AfD" im Osten machen können. Beide Phänomene sind Spätfolgen der SED-Diktatur. Nur wer die Geschichte der DDR nicht schönt, wird also in der Lage sein, Ostdeutschland nach vorne zu bringen.

Stephan Hilsberg, 1956 im brandenburgischen Müncheberg geboren, arbeitete in der DDR als Informatiker. Ende der 80er Jahre engagierte er sich in der Friedensbewegung der Evangelischen Kirche. Am Beginn der friedlichen Revolution 1989 zählte er zu den Gründungsmitgliedern der ostdeutschen SPD, war ihr erster Sprecher und später Geschäftsführer.
Hilsberg gehörte der letzten und frei gewählten Volkskammer 1990 an. Anschließend war er Bundestagsabgeordneter bis 2009 und in dieser Zeit u. a. bildungs- und forschungspolitischer Sprecher seiner Fraktion, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und zwei Jahre lang Staatssekretär im Verkehrsministerium.
Heute ist er selbständig als Autor und Publizist tätig.

Stephan Hilsberg, Mitbegründer der ostdeutschen SPD 
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