DDR-Geschichte

Schüsse an der Mauer

Von Sylvia Conradt · 03.04.2014
Nach 1989 wurde in den so genannten Mauerschützenprozessen immer wieder um den Schießbefehl an der deutsch-deutschen Grenze gestritten. Oft wurde er von den politisch Verantwortlichen geleugnet. Heute vor 25 Jahren wurde ein Befehl aufgehoben, der offiziell nie existierte.
„Der Generalsekretär unserer Partei hat seine Unzufriedenheit über die Entwicklung der Lage an der Staatsgrenze zum Ausdruck gebracht.“
Generaloberst Fritz Streletz, Stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung in der DDR, vor Militärs der Grenztruppen und Nationalen Volksarmee am 3. April 1989.
„Zur Anwendung der Schusswaffe an der Staatsgrenze: Es gilt zu beachten: Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schusswaffe anzuwenden.“
Mit der Errichtung des Sperrgebiets zwischen der DDR und der Bundesrepublik Anfang der 1950er Jahre war die Bewachung und Sicherung der Grenze verstärkt und im Laufe der Jahrzehnte immer weiter ausgebaut worden. So genannte illegale Grenzübertritte sollten durch den Einsatz von Schusswaffen verhindert werden. Allerdings existierte kein „offiziell“ unterzeichneter Befehl, vielmehr regelten als „streng geheim“ eingestufte Dienstvorschriften den Schusswaffengebrauch. Der Historiker Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
"Wenn man die verschiedenen Bestimmungen formaljuristisch betrachtet, dann begründeten sie einen Erlaubnistatbestand. Das heißt, der Befehl, der mündliche Befehl, der den Grenzsoldaten gegeben wurde, lautete bis in die 80er Jahre: Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten. Und das beinhaltete eben die Erlaubnis, die Schusswaffe anzuwenden."
Im Frühjahr 1962 berichtete der RIAS, der Rundfunk im amerikanischen Sektor, über den Schießbefehl an der Berliner Mauer.
"Mancher Bewaffnete aus Ulbrichts Wehrmacht meldete inzwischen: Mordbefehl ausgeführt. Einer musste es mit ansehen. Und flüchtete ebenfalls. Er berichtet: 'Jetzt wollten die fünf Mann rüber und da schoss er zwei Warnschüsse ab, und er rief sie zweimal an. Dann hat er eben auf den einen draufgehalten, und der hat einen Durchschuss gehabt durch den Hals und einen durch den Oberschenkel und einen Steckschuss in der Hüfte. Und dafür hat der dann noch 100 Mark Prämie gekriegt. Sowas, das mach‘ ich nicht mit.'"
Mehr als 1000 Menschen starben bei Fluchtversuchen
"Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel zu spüren", unterstrich der Verteidigungsminister der DDR, Armeegeneral Heinz Hoffmann, vor Soldaten.
Hans Hermann Hertle: "Es gab bis 1982 ausschließlich dienstliche Bestimmungen. 1982 wurde eine gesetzliche Grundlage geschaffen, die sich an den Bestimmungen zum Beispiel auch in der Bundesrepublik Deutschland zum Schusswaffengebrauch orientierten. Und damit wurde in gewisser Weise eine rechtsstaatliche Fassade geschaffen. Denn in der Praxis und der Handhabung der Schusswaffe in den 80er Jahren blieb es genauso wie vorher: Es wurde nach wie vor auf flüchtende Menschen geschossen."
Mehr als 1000 Menschen bezahlten ihren Fluchtversuch über die innerdeutsche Grenze mit dem Leben. An der Berliner Mauer starben 138 Menschen. Der 20-jährige Chris Gueffroy war der letzte Flüchtling, der hier am 5. Februar 1989 erschossen wurde. Sein Tod erregte die Weltöffentlichkeit. Am 3. April 1989 hob Erich Honecker den bis zuletzt geleugneten Schießbefehl auf.
Hermann Hertle: "Die DDR hatte im Januar 1989 das Wiener KSZE-Abkommen unterschrieben und sich darin verpflichtet, das Recht eines jeden auf freie Ausreise und Wiedereinreise in sein Land zu gewährleisten. Die DDR kam jetzt ganz stark unter internationalen Druck, sie kam auch unter Druck von den eigenen sowjetischen Genossen, die einfach eine Verschlechterung des internationalen Klimas befürchteten, wenn die DDR auch weiterhin auf Menschen an der Grenze schießt.
Dennoch wurden wenige Tage später erneut Flüchtlinge an der Grenze durch Warnschüsse gestoppt - ein letztes Mal.
Erich Mielke: "Ich will überhaupt mal etwas sagen, Genossen: Wenn man schon schießt, dann muss man das so machen, dass nicht der Betreffende noch wegkommt, sondern dann muss er eben dableiben bei uns."
Der Chef der DDR-Staatssicherheit, Erich Mielke, Ende April 1989 auf einer Dienstbesprechung.
Erich Mielke: "Wat is denn das, 70 Schuss loszuballern, und der rennt nach drüben, und die machen 'ne Riesenkampagne. Wo noch etwas mehr revolutionäre Zeiten waren, da war es nicht so schlimm. Aber jetzt, nachdem so neue Zeiten sind, den neuen Zeiten muss man Rechnung tragen. Das war es, was ich euch mit auf den Weg geben wollte."
Sieben Monate später fiel die Mauer.