DDR

Genießbare Geschichte

Von Martin Ahrends · 09.03.2014
Hier erzählt ein Insider verständlich über das Leben in der DDR. Das Besondere: Der Historiker Wolle lässt Original-Dokumente wie Gedichte und Alltagstexte sprechen und überlässt dem Leser deren Interpretation.
Stefan Wolle sagt es gerne schlicht und klar, seine Sprache ist vielen verständlich, er hat so etwas wie ein Volksbuch geschrieben, das von oft humoristisch erzählten Episoden lebt, von einer geradezu literarischen Anteilnahme daran, was ihm, was Ostdeutschen in diesen 40 Jahren zugestoßen, vor die Füße gefallen ist – und was so zum Alltag wurde, denn einen anderen gab es nicht.
"Es geht darum, zu zeigen, dass Diktatur und Alltagsleben zwei Seiten einer Medaille waren – ganz im Sinne von Karl Marx eine dialektische Einheit der Gegensätze. (...) Geborgenheit und Unfreiheit gehören zusammen. Die Wärme der Gemeinschaft und die kollektivistische Totalkontrolle bildeten eine untrennbare Einheit. Die Sicherheit des Arbeitsplatzes und die Staatssicherheit hingen nicht nur semantisch zusammen. Die von vielen geschätzte Ruhe und Ordnung und die Friedhofsruhe der Diktatur waren unlösbar miteinander verbunden. Diese Zusammenhänge plausibel zu machen, ist freilich, wie Brecht es im Lob des Kommunismus ausdrückte, 'das Einfache, das schwer zu machen ist'."
Auch im dritten Band geht Stefan Wolle auf seine ostdeutschen Leser zu, lässt die verschüttete, verdrängte Erinnerung behutsam wiederkehren, indem er originale Texte extensiv zitiert und für sich stehen lässt: Jedem erzählen sie so etwas anderes über das eigene gelebte Leben. Er spricht als Betroffener, dem es auch weh getan hat, was geschah, und der trotzdem seinen Weg gefunden hat, damit zu leben. Stefan Wolle ist als Student denunziert worden und musste sich "in der Produktion bewähren", bevor er weiter studieren durfte.
Sieben Arten von Öffentlichkeit
Adornos Satz, es gebe kein richtiges Leben im falschen, hat seine Wahrheit, lenkt aber den Blick davon ab, wie man im falschen seine Würde behaupten, wie man in diesem Falschen einen kreativen Alltag leben und, ja, glücklich werden konnte. Erst in der kreativen Reaktion auf das Unzumutbare wird DDR-Geschichte wirklich interessant. Unter dem, was von außen betrachtet als öffentlicher Grauschleier erscheinen musste, entdeckt der Insider Stefan Wolle zum Beispiel sieben Arten von Öffentlichkeit:
"Es hat in der DDR mehrere Kommunikationskreisläufe oder Diskurssphären gegeben, die nicht unabhängig voneinander funktionierten, sondern auf komplizierte Art aufeinander einwirkten und reagierten. Bei aller Fragwürdigkeit solcher Hilfskonstruktionen sollen sieben dieser Diskursfragmente beschrieben und deren Wirkungsweise skizziert werden."
Stefan Wolle kreiert seine Thesen lieber aus dem Vorgefunden als in Abgrenzung zu anderen Historikern. Er ist gern Empiriker und reagiert damit wohl auch auf das "Empirieverbot" in der DDR. Dort gab es keine Publizistik, die diesen Namen verdient. Da ist also manches nachzutragen, was Ostdeutsche nicht über sich erfahren konnten.
Stefan Wolle steigt in die Archive und findet anderes als jene Historiker, die nur auf Beweise aus sind für ihre steilen Thesen. Er findet alle Art Unbekanntes und Vergessenes. Geheimdokumente, die allzu lang unter Verschluss lagen, stellen manches in ein neues Licht, vielerlei literarische und Alltagstexte die er gern ausführlich zitiert, geben einen "Geruch und Klang" jener Jahre, eine Anmutung, die anders schwer zu haben wäre. Vor dem Aufstand in der Stalinallee häufiger als danach erklang im Rundfunk der "Aufbauwalzer":
"Weit wie der Himmel, hell wie die Sonne und schön
baun wir Häuser, schnell solln die Kräne sich drehn.
Wir rufen Hau ruck! Hau ruck!
Wir packen zu und die Häuser erblühn!
Hau ruck! Hau ruck! Für unser junges Berlin!"
Lebensnah und anteilnehmend
Der Aufstand vom 17. Juni 1953 ist durch seine politische Instrumentalisierung nahezu unkenntlich geworden. In seinen fünf Kapiteln, auch zu den Vor- und Nachwehen, beschreibt Wolle die Vorgänge fern aller vorhandenen Klischees plausibel, lebensnah und anteilnehmend:
"Die Bewegung ist von elementarer Wucht und großer Besonnenheit. Die Funktionäre und Vorgesetzten werden einfach beiseitegeschoben. Nirgendwo kommt es zu größeren Gewalttätigkeiten."
Er beschreibt, wie sich in diesen Junitagen ein Aufatmen und Abschütteln Bahn bricht, das von weiter herkommt, auch als nachgeholte Reaktion auf die Nazijahre:
"Nach zwanzig Jahren totalitärer Herrschaft hat sich das Volk erhoben, nimmt die Geschicke in die eigene Hand. Es ist wie ein Rausch – und noch heute fallen auf den Fotos die lachenden Gesichter auf."
"Wir wollen keine Volksarmee, wir wollen Butter!", stand damals auf einem Spruchband. Hier wie an vielen anderen Stellen widerspricht Stefan Wolle jenen Propagandasätzen, die noch in manchen ostdeutschen Köpfen festhängen mögen. So zum Beispiel der These, der RIAS habe den Aufruhr angezettelt, was zu tun, nachweislich nicht im Interesse der Alliierten lag. Nur der Insider kennt die verscharrten Ideologeme in den Köpfen und Seelen der Ostdeutschen, nur er weiß sie behutsam auszugraben, um sie ordentlich zu bestatten.
Auf dem Waschzettel dieses dritten Bandes ist von keiner historischen Theorie zu lesen, sondern ein Gedicht von damals: Dokumentiert wird dieser Kinderton des Neubeginns, der naiv erscheinen sollte, es aber nicht war:
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Cover: "Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1949-1989" von Stefan Wolle© Ch. Links Verlag Berlin
"Lieber Plan, lieber Plan,
was hast du für uns getan?
Schuh und Kleider euch gebracht,
schwarze Brötchen weiß gemacht,
das hab ich getan ..."
"Schwarze Brötchen weiß gemacht" - der Versuch, einen Zivilisationsbruch in einen Neubeginn umzudeuten, ist mit Händen zu greifen. "Neues Deutschland" hieß die Zeitung, "Neues Leben" der Verlag, neue Menschen wollte man in eine neue Zeit pflanzen. Die Überanstrengung dieses hastigen Schöpfungsaktes, seine Flüchtigkeit, seine rührenden, komischen, martialischen Ausprägungen sind spürbar in den Dokumenten jener Anfangsjahre.
Vertrauen in die Originale
Der Historiker Stefan Wolle leitet ein DDR-Museum im Zentrum Berlins, auch was man dort zu sehen und zu hören bekommt, teilt sich ohne Erklärung mit. Und nicht nur jenen, die dort etwas wiedererkennen: das Provisorium, das gewollt andere, die neue Welt der Neubaublocks und die gefährlich schlotternde Angst, dass alles in sich zusammenfällt.
Dieser Historiker sucht nicht, um etwas zu finden, das ihm in den Kram passt. Er traut der Anmutung von Originalen, er traut den authentischen Zeugnissen zu, mehr zu erzählen, als es jede Interpretation könnte. Dieses Vertrauen in die Vielschichtigkeit, Vielstimmigkeit der Originale zeichnet ihn vor anderen Zeitgeschichtlern aus. Seine dreibändige DDR-Geschichte bleibt interpretierbar. Hier kann ein Zeitdokument auch seinen Duft verströmen, seinen Modermuff und seine Parfümierung. Genießbare Geschichte wird hier ausgebreitet, wo doch gerade DDR-Historie als ganz ungenießbar galt.

Stefan Wolle:Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1949-1989
Dreibändige Ausgabe - Abschluss der Trilogie
Christoph Links Verlag
1270 Seiten, 59,90 Euro

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