DDR

Die wahre Absicht der SED-Führung

Walter Ulbricht beim 6. Parteitag der SED 1963.
Glaubte, dass sein System siegen wird: Walter Ulbricht, ehemaliger Staatsratsvorsitzender der DDR © picture alliance / dpa-Zentralbild / ADN
Von Uwe Stolzmann · 16.01.2014
Hatte SED-Chef Walter Ulbricht tatsächlich nicht "die Absicht, eine Mauer zu errichten"? Autor Michael Kubina interpretiert die Quellen neu und ist überzeugt, dass Ulbricht und Co. eigentlich ganz andere Pläne hatten - und die "Republikflucht" unterschätzen.
"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Walter Ulbricht sagte diesen Satz am 15. Juni 1961 vor der Presse in Berlin. Eine Reporterin hatte nach dem künftigen Verlauf der Grenze in der Stadt gefragt, eine "Mauer" aber nicht erwähnt. Warum benutzte der SED-Chef das Wort? Knapp zwei Monate nach der Pressekonferenz war die Grenze zwischen Berlin Ost und West geschlossen, nun wuchs jene Mauer, die 28 lange Jahre stehen sollte; der SED-Chef war als Lügner überführt.
Zahllose Historiker haben die Vorgeschichte des 13. August beschrieben, mit immer ähnlichen Thesen: Die SED und Ulbricht wollten die Grenze in Berlin schon viel früher dicht machen, spätestens 1952. In jenem Jahr ließen die Sowjets die innerdeutsche Grenze abriegeln. Ein wachsender Flüchtlingsstrom floß nun ins "Schlupfloch" West-Berlin, die DDR blutete aus. Ulbricht drängte darauf, das Loch zu stopfen. Am 13. August war er endlich am Ziel. Und der Satz vom 15. Juni 1961? War Täuschung, ein Freudscher Versprecher.
Alles falsch - ruft Michael Kubina (Jahrgang 1958), ein ostdeutscher Historiker; Ulbricht wollte die Mauer gar nicht bauen. Eine knappe, kühne These. Um sie zu belegen, publizierte Kubina ein 500 Seiten starkes Buch.
Dies sind, gerafft, seine Fragen und Erkenntnisse: Ulbricht habe lange vor 1961 eine Mauer gefordert - läßt sich dieses Diktum beweisen? Nein. Keine Quelle spricht davon. Bis zum 13. August flohen vier Millionen Ostdeutsche in den Westen – warum tat die SED-Spitze lange nichts dagegen? Weil sie kein Interesse hatte. Ab 1952 terrorisierte sie ihre Gegner, damit sie fortgingen.
Die junge DDR wurde von Zuwanderern überschwemmt; Millionen kamen aus den verlorenen Ostgebieten, Tausende aus dem Westen. Stieg die Zahl der Republikflüchtigen tatsächlich kontinuierlich? Nein. Erst 1953 wuchs der Strom, als der Terror begann. Etwas später gingen die Zahlen wieder zurück; es gelangten sogar mehr Menschen legal als illegal in den Westen.
Glaube an die Stärke des Systems
Zur selben Zeit, Mitte der Fünfziger, glaubte die SED fest an die Überlegenheit ihres Systems; bis 1961 wollte Ulbricht den Westen überholen. Dann würde es wieder Flüchtlinge geben, aus der BRD. Hier stellt sich jedoch die Frage: Warum ist die Berliner Grenze nach dem Weltkrieg sukzessive geschlossen worden, wenn nicht wegen der Ost-Flüchtlinge? Kubinas Antwort: Um Schmuggel, Schwarzarbeit, Sabotage zu unterbinden, sprich: um den Verkehr von Westen zu kontrollieren.
Kubina schreibt: Walter Ulbricht wollte West-Berlin nicht als "Schaufenster des Westens", als Pfahl im Fleisch des Sozialismus sehen, er wollte die Stadt erobern. Aber wie? Der sowjetische Premier Chruschtschow hatte jahrelang einen Friedensvertrag versprochen – notfalls separat zwischen Sowjetunion und DDR. Nach Abschluss des Vertrags, so hoffte Ulbricht, würde Ost-Berlin die Verkehrswege nach West-Berlin kontrollieren und mit den Wegen bald die Stadt. 1961 aber zeigte sich: Der Osten hatte den Wettlauf der Systeme verloren. Der Westen boomte, er lockte immer stärker. Täglich gingen über tausend Menschen nach drüben, nun musste etwas geschehen.
Am 15. Juni 61 hat der SED-Chef nach Kubinas Ansicht dennoch nicht gelogen. "Niemand hat die Absicht", nein, Ulbricht wollte noch immer keine Mauer, er wollte den Friedensvertrag. Der Befehl zum Mauerbau soll sehr plötzlich aus Moskau gekommen sein, zur Überraschung der SED-Führung.
Kubinas Buch ist ein so interessantes wie irritierendes Buch: Die Thesen zum Mauerbau sind provokativ - doch sie basieren auf Spekulationen. Der Autor beklagt den Mangel an Quellen. Aber wie er die wenigen Quellen interpretiert, das wirkt stimmig, überzeugend. Kubinas Buch ist ein packendes Buch. Lustvoll zerpflückt ein streitbarer Forscher hier die Texte und Thesen seiner Kollegen.
Spannend wie ein Krimi wäre dieses Buch, ein großer Wurf – wäre es nicht viel zu lang. Die Quellenkritik: ausufernd. Die Fakten und Vermutungen: werden mehrfach wiederholt, zum Teil in ähnlichen Formulierungen. Vor einiger Zeit hat Kubina seine Thesen auf recht engem Raum präsentiert – in einem Aufsatz, auf wenigen Seiten.

Michael Kubina: Ulbrichts Scheitern
Ch. Links Verlag, Berlin
520 Seiten, 49,90 Euro

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