DDR

Das verschwundene Land

Die Autorin Anja Goerz posiert am 15.04.2014 in Kleinmachnow (Brandenburg) mit ihrem Buch "Der Osten ist ein Gefühl".
Autorin Anja Goerz © dpa / picture alliance / Ralf Hirschberger
Rezensiert von Simone Schmollack · 25.05.2014
Die DDR ist längst Geschichte - und hinterlässt bei den ehemaligen Bewohnern vor allem eines: ein Gefühl. Die Autorin Anja Goerz hat sich 25 Jahre nach dem Mauerfall aufgemacht, ostdeutsche Befindlichkeiten zu erkunden.
Der Osten. Das ist Englisch in Lautschrift. Zumindest für Achim Mentzel. Der zwei Zentner schwere Musiker und Entertainer aus Ostberlin lernte nur Russisch in der Schule und hat alle englischen Texte so aufgeschrieben, wie er sie gehört hat. Für die Hebamme Ina Flieger ist der Osten eine Hochzeitsreise nach Tschechien - mit Trabbi und Zelt. Und für Antje Schendel, die in der DDR Model war und jetzt Tatortreinigerin ist, ist das die pink-schwarze Kosmetikserie "Action".
Wer heute über "den Osten" redet, muss weit zurückschauen. In die kollektive und in die persönliche Vergangenheit. Manches ist vergessen, vieles verblasst. Daher ist der Osten mittlerweile vor allem eines: ein Gefühl. Auch für Anja Goerz, die sich 25 Jahre nach dem Mauerfall aufgemacht hat, so etwas Diffuses wie ostdeutsche Befindlichkeiten zu erkunden.
Das hat einen konkreten Hintergrund: Die 46-Jährige aus Nordfriesland arbeitet in Potsdam bei "RadioEins", einem Epizentrum zwischen "Typisch Ossi" und "Scheiß Wessi", wie die Moderatorin in ihrem Vorwort schreibt:
"Hier prallen auch heute noch Mentalitäten aufeinander. Die Diskussionen über Ost und West - sei es mit und unter den Hörern oder im Kollegenkreis - verlaufen heftig und leidenschaftlich und bleiben meist ohne Ergebnis."
Sie selbst habe viel zu wenig darüber nachgedacht, wie es denjenigen geht, die heute im Westen leben, aber im Kopf und im Herzen den Osten bewahren. Solche Menschen hat sie nun getroffen und befragt, herausgekommen ist ein Sittengemälde in Miniaturform, ein leicht und schnell zu lesender Porträtband.
Da ist zum Beispiel Regine Sylvester, Journalistin, bekannt vor allem durch "Wochenpost" und "Berliner Zeitung". Sie war 15, als die Mauer gebaut wurde, und 44, als sie wieder fiel. Damit gehört die heute 68-Jährige jener Generation an, die gern als Wendeverlierer bezeichnet wird: beim Mauerfall zu alt für etwas komplett Neues und zu jung für die Rente.
Wendeverlierer, die sich durchgebissen haben
Regine Sylvester aber hat sich durchgebissen im Westen, sie hat weiter Karriere gemacht, Bücher geschrieben. Verlierer sehen anders aus. Und doch ist für die Berlinerin der Osten noch nicht "erledigt", wie sie es ausdrückt. Sie fühlt sich verpflichtet, für ihr "untergegangenes Land" zu werben.
Sie vergleicht und sie vermisst, darunter das Interesse Westdeutscher am Osten und Läden von früher. Sie sagt "Kaufhalle" und "Arschlöscher". Und sie sagt auch, dass sie im Westen, "irgendwie heimatlos" sei:
"Wahrscheinlich hänge ich an der DDR, weil ich an meiner Jugend hänge, am Leben. Tanzen gehen, knutschen, Erfahrungen mit Jungs, mit Freunden feiern, das hat ja alles in diesem Land stattgefunden."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Cover: "Der Osten ist ein Gefühl" von Anja Goerz© dtv München
Solche Worte würde der Taxifahrer Frank Gardow für die DDR niemals finden. Sein Vater war ein "Politischer", wie man damals sagte. Als 17-Jähriger hatte er am 1. Mai 1961 eine DDR-Fahne vom Mast gerissen, dafür kam er ins Gefängnis. Die Folge: In Gardows Familie wurde gut über den Westen und schlecht über den Osten geredet.
Stasi, Verrat, Strafen. Das ist das DDR-Bild, mit dem der 46-Jährige groß wurde. Heute spürt er keine Wut mehr und keinen Hass. Aber Unverständnis und Fassungslosigkeit, wenn er in der Zeitung liest, dass Ex-SED-Mitglieder und Stasi-Mitarbeiter immer noch nicht zu ihrer Vergangenheit stehen wollen.
"Die sitzen nach wie vor in der Politik und überall und decken sich gegenseitig. Man weiß ja nicht, ob man die Zugehörigkeit bei allen herausfindet. Ich lebe damit, freue mich aber über jeden, der auffliegt."
Goerz' Protagonisten und deren Biografien sind Geschichten, wie man sie hundertfach gehört hat. Doch mitunter überraschen sie. So hat sich die Brandenburgerin Nancy Krahlisch manchmal einen anderen Vornamen gegeben, wenn sie sich Wessis vorstellte. Nancy, Cindy, Mandy - so hießen nur Mädchen aus dem Osten.
Jeder Lebenslauf, so individuell und einzigartig er auch sein mag, zeigt am Ende, wie zählebig Historie und wie störrisch Menschen sein können. Die Autorin nimmt jeden von ihnen ernst, selbst einen Polizisten, der als einziger im Buch seinen richtigen Namen nicht nennen will und sich selbst noch immer als Kommunist bezeichnet.
Kommunismus, das ist für den Mann kein Wort mit negativem Beigeschmack, sondern die Idee, dass es Menschen nach langer Zeit der Ungleichheit besser geht. Das Ende der DDR erlebte er als persönliche Niederlage:
"Ich bin jetzt viel länger im Westen Polizist, als ich es im Osten war. Aber ich vermisse den Osten immer noch."
Geschichten auch aus westdeutscher Sicht
Manchmal sind es aber auch Geschichten von Westdeutschen, die den Osten beschreiben. Zum Beispiel die von Wolfgang Klein, der von 1983 bis 1986 Korrespondent für die ARD in Ostberlin war. Er erzählt, wie er einen Film über einen Eigenheimbauer drehen wollte. Dazu brauchte er eine Genehmigung vom DDR-Außenministerium, er wollte einen einfachen Förster filmen - und bekam einen Architekturprofessor aus Weimar vor die Nase gesetzt.
Beim Dreh war jemand von der Stasi dabei, und als Klein und die Frau des Professors kurz allein waren, fuhr die Frau den Journalisten an: Was soll das? Was tun Sie meinem Mann da an? Das Paar war zu den Aufnahmen verdonnert worden, es wurden Dachziegel geliefert, bevor das Fundament ausgehoben war. Jetzt musste das Ehepaar die Ziegel bewachen, damit die nicht geklaut wurden.
Hätte der Professor die Wahrheit erzählt, wäre er seinen Job los gewesen. Hätte er hingegen gesagt, es sei ganz prima, im Osten ein Haus zu bauen, wäre das Paar für die nächsten Jahre das Gespött der Leute gewesen. Wolfgang Klein war tief beschämt.
"Das war der Tag, an dem ich gelernt habe, dass man Journalismus in der DDR nicht einfach nach den Regeln und Maßstäben des Westens machen durfte. Dass es falsch sein kann, in 'harten Interviews' nach der Wahrheit zu bohren - worauf wir Journalisten doch sonst immer so stolz sind."
Den Film hat Klein trotzdem gemacht. Der Architekturprofessor spielte darin keine große Rolle. Getroffen haben sich beiden nie wieder.

Anja Goerz: Der Osten ist ein Gefühl. Über die Mauer im Kopf.
dtv München, April 2014
200 Seiten, 14,90 Euro