DDR-Alltagskultur in Kalifornien

Von Kerstin Zilm · 11.08.2012
Rund 70.000 Artefakte und Dokumente des Kalten Krieges hat das Wende Museum in Los Angeles bisher gesammelt. Eine umfangreiche audiovisuelle Sammlung von Material aus der ehemaligen DDR kann jetzt katalogisiert, digitalisiert und veröffentlicht werden - dank einer Finanzspritze des US-Museums- und Bibliotheksdienstes.
"Ich bin gebeten worden bei einem Film mitzumachen. Ein Film zum Thema AIDS. Ich habe einiges von dieser Krankheit gehört, gelesen, auch mal drüber geredet. Aber was hat das mit mir, mit mir ganz persönlich zu tun?" (Film-O-Ton, "Liebe ohne Angst")

Dieser Lehrfilm zum Thema AIDS wurde 1988 im Auftrag des Hygiene-Museums von Dresden gedreht. Er beginnt mit einer erotischen Liebesszene, zeigt Umfragen und gibt Lehrern Tipps, wie sie das Thema im Unterricht behandeln können. "Liebe ohne Angst" ist einer von 6500 DDR-Filmen im Archiv des Wende Museums.

Für Direktor Justin Jampol sind Sexualkundefilme ein perfektes Beispiel dafür, wie Zeugnisse der DDR-Alltagskultur Vorurteilen entgegen wirken können:

"Ich fand es ziemlich bemerkenswert, dass während wir in den USA noch heute diskutieren, ob Sexualkunde in Schulen unterrichtet werden soll, DDR-Lehrfilme ziemlich fortschrittlich waren. Das macht deutlich: politische Aspekte des Lebens können restriktiv und andere Bereiche wie Gesundheit, Hygiene und Bildung fortschrittlich sein."

Justin Jampol ist in Los Angeles aufgewachsen. In Oxford studierte er in den 90er-Jahren Geschichte. In der Zeit begann er, Zeugnisse des Kalten Krieges vor Zerstörung und Müllhalden zu retten und zu sammeln. In Los Angeles fand er dank großzügiger Spender, die sich für den Kalten Krieg interessieren, einen Standort für seine Sammlung. 2002 gründete Jampol das Wende Museum. Sein Erhalt wird durch Stiftungen und private Spenden finanziert. Die Finanzspritze von 150.000 Dollar durch den US-Museums- und Bibliotheksdienst unterstützt das Anliegen des Museums, historische Artefakte und Dokumente, die andere Institutionen vernachlässigen oder aussortieren für die Wissenschaft zu bewahren.

Museumsdirektor Jampol: "Wir haben eine einmalige Gelegenheit, Geschichte zu bewahren. In zehn Jahren können wir das so nicht mehr tun, weil Material verschwindet und zerfällt. Egal wie viele Studenten und Spezialisten darauf warten, mit diesen Filmen zu arbeiten - und das sind sehr viele - es ist nicht vergleichbar mit dem Interesse, das entstehen wird, wenn diese junge Vergangenheit Geschichte ist. Da sind wir noch nicht."

Der Schwerpunkt des Wende Museums liegt auf seinem Archiv. Wissenschaftler recherchieren hier für Bücher und Dissertationen. Filmemacher finden Informationen für Drehbücher und Kulissen. Künstler verarbeiten digitalisiertes Material zu Collagen. Die audiovisuelle Sammlung, die jetzt für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, besteht aus 6500 Filmen, 20.000 Dias und 5000 Audiokassetten.

Justin Jampol ist sicher: Lehrfilme, Aufzeichnungen aus Klassenzimmern, Privataufnahmen und Rohmaterial von Spielfilmen werden bei der Aufarbeitung deutscher Geschichte eine wichtige Rolle spielen:

"Es sind genau die Filme, die super-interessant für Wissenschaftler und Spezialisten auf dem Feld sind. Sie informieren über DDR-Alltagskultur, wie Vorstellungen vermittelt wurden, was Schüler gelernt haben, wie sie gelernt und welche Fragen sie gestellt haben."

Im Museumsarchiv speist zwischen Leninbüsten, Fahnen, Kinderspielzeug, Straßenschildern und ungeöffneten Kartons Praktikant Loren Rosen einen 16-mm-Film in die hochmoderne Digitalisierungsmaschine ein. Aus den Filmdosen vor ihm steigt Essiggeruch auf - ein Zeichen ihres Verfalls.

Die Arbeit im Wende Museum hat die Vorstellung des 20-jährigen Studenten vom Leben der DDR-Bürger radikal verändert.

"Es sieht so aus, als wären sie auch nur Menschen gewesen! Mein Vater hat als Amerikaner immer gedacht: Die Kommis hatten immer graue Uniformen an, bekamen Gehirnwäschen verpasst und gewannen andauernd bei den Olympischen Spielen. Wow! Das war auch nur Propaganda!"

In drei Jahren sollen die 6500 Filme katalogisiert und digitalisiert sein. Anfang des nächsten Jahres werden die ersten Filme online kostenlos zur Verfügung stehen.

Dann beginnt für Museumsdirektor Jampol der nächste spannende Schritt der Arbeit, die die 150.000 Dollar des US-Museums- und Bibliotheksdienstes ermöglichen:

"Aufregend an der Sache ist nicht nur herauszufinden, was auf den Filmrollen ist, sondern auch was mit den Filmen passiert. Ich hoffe, dass die Konservierung nur der Anfang ist. Die Quellen sind so ergiebig und unterschiedlich. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt."

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DDR in LA - Studierende erforschen DDR-Alltagskultur im "Wende Museum" in Los Angeles, (DLF, Campus & Karriere)
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