Davy Chou über "Diamond Island"

"Königreich der Künstlichkeit, in dem Leute Träume kaufen"

In einer Szene aus Davy Chous Film "Diamond Island" ist ein großer leerer Platz zu sehen, über den drei Mofas fahren; im Hintergrund Häuserbaustellen.
Szene aus Davy Chous Film "Diamond Island" © Rapid Eye Movies
Davy Chou im Gespräch mit Patrick Wellinski · 14.01.2017
In "Diamond Island" erzählt der Filmemacher Davy Chou von jungen kambodschanischen Arbeitern und ihrer Sehnsucht nach Modernität. Er zeigt aber auch, dass sich die von der Schreckensherrschaft der Roten Khmer geprägte Vergangenheit Kambodschas nicht so leicht abschütteln lässt.
Patrick Wellinski: Ihr Film heißt "Diamond Island" und meint die Insel, die vor der kambodschanischen Hauptstadt liegt. Warum haben Sie jetzt gerade diesen Ort für Ihr Spielfilmdebüt gewählt?
Davy Chou: Nachdem ich mit "Golden Slumbers" einen Film über die verlorenen Erinnerungen des kambodschanischen Kinos - also die Zeit vor den Roten Khmer - gedreht hatte, wollte ich einen Spielfilm über die Jugend im modernen Kambodscha machen. Mir schwebte kein besonderer Ort vor. 2012 fing ich an, das Drehbuch zu schreiben - und irgendwie gelang es mir nicht, einen Schluss zu finden. Als ich von Frankreich wieder nach Kambodscha reiste, wollte ich das Skript aufgeben. Aber dann fuhr ich zu den Diamond Islands. Es gibt diese Inseln wirklich. Sie liegen ganz in der Nähe von Phnom Penh. In den letzten sechs Jahren hat man dort versucht, eine neue "Stadt in der Stadt" zu bauen, moderner als jede andere im Land. Mir war plötzlich klar, dass dies der richtige Ort wäre: Er symbolisiert alles in seiner plastikhaften, hoch ästhetischen Bauart. Alles, was ich im Film über die Beziehung der Jugend in Kambodscha und den Mythos des modernen Kambodscha sagen wollte, fand ich dort vereint. Und so habe ich mich für diesen Ort entschieden.
Patrick Wellinski: Es geht ja im Kern um den jungen Bora, der als Handwerker auf dieser Insel anheuert und sich mit anderen Jugendlichen zusammenschließt, die auf dem Bau arbeiten. Er befreundet sich mit denen - und dann kommt sein mysteriöser Bruder plötzlich an und will ihn nach Amerika mitnehmen. Diese Bruderfigur ist sehr interessant. Vielleicht könnten Sie etwas über die Konstruktion dieses Bruders sagen?
Der kambodschanisch-französische Regisseur Davy Chou beim 25. Tokyo International Film Festival 2012
Der kambodschanisch-französische Regisseur Davy Chou beim 25. Tokyo International Film Festival 2012© picture alliance / dpa / Franck Robichon
Davy Chou: Bora sieht seinen älteren Bruder Solei wieder. Solei war fünf Jahre zuvor auf rätselhafte Weise verschwunden. Für mich ist der Bruder eine Art Metapher für den Modernisierungsprozess, den das Land durchläuft. Er will den jüngeren Bruder an die Hand nehmen und ihm den Traum von sozialer Emanzipation einimpfen. Die Brüder kommen aus ärmlichen Verhältnissen in der Provinz, so wie die meisten Menschen in Kambodscha. Solei will gesellschaftlich aufsteigen. Was er in den letzten fünf Jahren alles getan hat, bleibt etwas vage; aber ganz sicher hing er mit coolen, reichen Mittelklasse-Kids herum, urbanen Typen, die studierten. Ich wollte aus Solei eine abstrakte Figur machen. Er trägt immer schwarze Kleidung, er redet nicht viel. In ihm steckt eine Traurigkeit und Melancholie. Woher sie kommt, wissen wir nicht genau, aber er hat die Augen von jemandem, der Tragödien gesehen und seine Seele verloren hat. Ich wollte einen starken Kontrast schaffen zwischen Boras Naivität, seinem schlichten Gerede, und Solei, der den Ehrgeiz, das Streben symbolisiert und den Verlust der Seele.

Obsessionen spiegeln

Patrick Wellinski: Wunderschön träumerisch sind die Bilder, mit denen Sie arbeiten, und die saugen Ihre Figuren quasi auf. Ich hatte manchmal das Gefühl, diese jungen Arbeiter sind fast schon keine Menschen mehr, sondern irgendwie Geister, weil sie sich auch immer an andere Orte wünschen, dass sie ja fast schon die Bodenhaftung verlieren.
Davy Chou: Ja, Solei kann man sich durchaus als geisterhafte Erscheinung vorstellen. Er kommt und geht, oft weckt er den schlafenden Bora auf. Ich spiele damit. Vielleicht ist er ein Geist, vielleicht existiert er nur in Boras Vorstellung. Er hat auf jeden Fall eine geisterhafte Präsenz. Und der Film handelt ja auch von Träumen. "Diamond Island" versinnbildlicht das neue Kambodscha, von dem das Land träumt. Ich wollte zeigen, wie sehr die Jugend davon mitgerissen wird und daran glauben will, dass dieser Ort für sie geschaffen wurde. Ich nutze zu Beginn des Films ein Werbe-Video, um zu zeigen, wie sehr die junge Generation mit diesen Bildern gefüttert wird. Und irgendwie glauben sie an diese Illusion. Mein Film spielt mit Bildern der Illusion, des Traums und der Fälschung. Und der geisterhafte Solei spielt damit.
Patrick Wellinski: Sie haben ja schon erwähnt, dass es Ihnen sehr wichtig war, den Ort einzufangen und auch die Menschen, die dort leben. War das auch ein Grund, weshalb Sie vor allem mit nicht-professionellen Darstellern gearbeitet haben?
Davy Chou: Realistisch würde ich meinen Film nicht nennen, aber er hat ganz sicher eine wirklichkeitsgetreue Dimension. Das zeigt sich am Umgang mit Fakten. Viele Dialoge haben die Schauspieler während der Proben verändert, viele Details wurden ergänzt. Ich bin Franzose. Meine Eltern wurden in Kambodscha geboren und ich habe dort einige Zeit verbracht. Aber ich bin natürlich kein "junger Kambodschaner". Ich musste viel beobachten und viele Fragen stellen. Ich wollte eine Wahrheit über diese besondere Zeit in Kambodscha einfangen, Verhaltensweisen dokumentieren, eine bestimmte Art zu sprechen, Obsessionen spiegeln, die in jedem Land anders ablaufen. Das Schauspiel sollte unbedingt glaubhaft wirken, obwohl der Film eine träumerische Dimension hat. Das drückt sich auch in den Farben aus und den Stimmen. Wir spielen mit einem irgendwie falsch klingenden Sound bei der Post-Synchronisation. Es gibt verschiedene Wirklichkeiten, die nach und nach im Film aufgefächert werden.

"'Miami Vice' ist für mich ein großes Kunstwerk"

Patrick Wellinski: Ist das vielleicht etwas, das Sie bei Ihren Vorbildern gelernt haben? Weil, als ich Ihren Film sah, kamen mir natürlich Filme von Hou Hsiao-Hsien in den Sinn oder auch von Jia Zhangke. Also auch vielleicht nicht mehr junge, aber berühmte, bekannte Filmemacher aus der ostasiatischen Region.
Davy Chou: Ja, sicher, ich bin ein Fan der Regisseure, die Sie nennen. Auch der Thailänder Apichatpong Weerasethakul ist ein wichtiger Filmemacher für mich. Ich liebe das Kino, so wie die meisten Filmemacher. Der Einfluss von Filmen, die du liebst, nährt dich irgendwie; und wenn es dann an der Zeit ist, dass du selber einen Film drehst, kommt das alles wieder hoch. Als Zuschauer mag ich es selber auch, wenn ich einen Mix von Einflüssen erkenne.
Der träumerische Teil meines Films verdankt sich auch ein wenig der 3-D-Actionfilm-Technik. Ich habe mir angeschaut, wie amerikanische Regisseure mit Digitalkameras experimentieren - ich meine bei richtigen Blockbustern. Wie Digitalkameras so eingesetzt werden, dass sie in nichts mehr an 45-mm-Filme erinnern, das fand ich anregend und faszinierend. "Miami Vice" ist für mich ein großes Kunstwerk.
Wir beschäftigen uns intensiv mit der Wahl der Farben und Fragen des künstlerischen Designs, mit der Bildkomposition eines sehr blauen Himmels zum Beispiel. Wir kreieren eine Atmosphäre, die uns in ein virtuelles Bild hineinzieht. Wir nutzen auch die Ästhetik der Videospiele, denn "Diamond Island" ist nichts anders als ein Köngreich der Künstlichkeit und der Fälschung, in dem sehr junge Leute Träume kaufen. Es war schlüssig, die Video-Ästhetik und die virtuelle Ästhetik zu erforschen.

Erstaunliche Geschichtsvergessenheit

Patrick Wellinski: Welche Rolle spielt die Geschichte des Landes für die Jugend, die Sie porträtieren wollen. Sie hatten ja den Einfluss der Roten Khmer auf die Geschichte Kambodschas schon in Ihrem Dokumentarfilm gezeigt, aber die kommen ja nur am Rande vor, auch wie Gespenster auf eine gewisse Weise.
Davy Chou: Ich fand es kühn, einen Film über die Khmer zu machen, in dem ihr Name nur ein einziges Mal erwähnt wird. Wenn später von ihnen die Rede ist, dann dient die Erwähnung nur als eine Art Zeitmarke. Die weibliche Hauptfigur erzählt Bora, dass ihre Großmutter in Phnom Penh lebte, bevor die Roten Khmer kamen. Wenn sie nicht gerade Geschichte studieren oder Kunst, dann redet von den jungen Leuten niemand über die Khmer. Nicht, weil sie deren Gräueltaten vergessen wollen, sondern weil ihre Eltern ihnen nichts über die Terrorjahre erzählt haben. Denn die wollten vergessen. Es gibt Ignoranz unter den jungen Leuten, und dennoch ist ihnen bewusst, dass sich etwas Tragisches ereignet hat. Sie wissen nicht, wie sie die Tür aufstoßen sollen.
Wenn Du 20 bist und in einem Land aufwächst, das extrem arm war, das sich langsam erholte, und dann wirst du plötzlich mit der Globalisierung konfrontiert, mit dem Internet und der rasenden Modernisierung, und jede Woche macht ein neuer Coffeeshop in deiner Straße auf, und du weißt nicht, wie du in das dunkle Zeitalter und wie in die Moderne springen sollst, dann kann es zu dieser erstaunlichen Geschichtsvergessenheit kommen. In Ländern wie Deutschland und Frankreich sind junge Leute ja auch nicht fixiert auf die Vergangenheit, aber sie umgibt uns hier ganz anders. Jüngere Geschichte wird unterrichtet. Ich denke, meine Perspektive wird angenommen, weil ich Franzose bin und eine Weile mit meinen Eltern in Kambodscha gelebt habe. Man gesteht mir zu, dass ich versucht habe, Dinge zu sehen, die sonst unbemerkt geblieben wären.
Mehr zum Thema