David Vann: "Aquarium"

Trümmerhaufen einer Familie

Fische im Aquarium of the Americas in New Orleans, USA
Caitlin, die Heldin des Romans "Aquarium", ist am liebsten bei den Fischen eines öffentlichen Aquariums in Seattle © AFP / Mark Ralston
Von Johannes Kaiser · 12.05.2016
Der Amerikaner David Vann vermag zerstörte und zerstörerische Familienverhältnisse meisterhaft zu beschreiben. In seinem Roman "Aquarium" erzählt er aus der Perspektive einer Zwölfjährigen.
Nach Schulende verbringt die zwölfjährige Caitlin ihre Nachmittage in einem öffentlichen Aquarium in Seattle. Dort holt sie ihre Mutter, Arbeiterin im Containerhafen, jeden Tag nach Schichtende ab. Von einem der Bassins trifft das Mädchen einen alten Mann und freundet sich mit ihm an. Wie sich herausstellt, ist das ihr Großvater. Als ihre Mutter davon erfährt, rastet sie vollkommen aus. Sie hasst ihren Vater, weil er sie als kleines Mädchen mit der sterbenden Mutter allein gelassen hat, einfach abgehauen ist. Jetzt verlangt sie von Caitlin, sich nie wieder mit ihrem Großvater zu treffen. Doch das sieht die nicht ein. Es kommt zu einer dramatischen Zuspitzung der Situation.
David Vann hat bereits in seinen vorherigen Romanen bewiesen, dass er meisterhaft zerstörte und zerstörerische Familienverhältnisse beschreiben kann: schwache oder fehlende Väter, physische und psychische Gewalt, Missbrauch, Hass und verzweifelte Liebe. Die Familien in den Romanen des Schriftstellers sind Trümmerhaufen und die am meisten leiden, sind die Kinder. Sie sehnen sich verzweifelt nach Liebe.
David Vann bewältigt damit literarisch auch ein Stück eigener Kindheit. Sein Vater hat Selbstmord begangen, die Familie mittellos zurückgelassen. Sein Großvater hat die Großmutter missbraucht, war gewalttätig. Das Schreiben hat dem Autor geholfen, sich seiner Vergangenheit zu stellen.

Bedrohliche Wutanfälle

David Vanns Stil ist hart, kompromisslos, bisweilen geradezu bedrohlich. Wenn Caitlins Mutter ihre Wutanfälle bekommt, sobald sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, erschrickt man. Sie zertrümmert nicht nur das Auto ihres Vaters mit einem Wagenheber, während er noch drin sitzt, sondern schlägt auch ihre Tochter, sobald die es wagt, ihren Großvater zu erwähnen.
Als völlig überforderte Zwölfjährige hatte sie ihre hinfällige sterbende Mutter monatelang pflegen, säubern und wickeln müssen, für sie gekocht, sie gefüttert. Niemand hat ihr geholfen. Dasselbe verlangt sie nun auch von ihrer Tochter für zwei Tage. Sie stellt sich halbtot. Caitlin muss sie waschen, säubern, füttern, bricht darunter fast zusammen. Es sind beklemmende und verstörende Szenen von geradezu brutalem Realismus.

Unschuldige Liebesszenen

Dazwischen geschoben sind ruhigere Passagen, wenn Caitlin im Aquarium die Fische bewundert und ihrem Großvater erklärt, wie sie leben. Zudem gibt es sehr zart beschriebene, unschuldige Liebesszenen zwischen Caitlin und ihrer enger Schulfreundin Shalini.
Der Roman ist aus der Sicht der Zwölfjährigen geschrieben, die Angst hat, ihre Mutter zu verlieren, sich aber gleichzeitig nach einer Familie sehnt. Sie hofft, dass ihre Mutter ihrem Großvater verzeiht und möchte auch, dass der geduldige Steve, der derzeitige Freund ihrer Mutter, bei ihnen bleibt.
Anders als in seinen vorherigen Romanen erlaubt sich David Vann diesmal einen Schluss, der Hoffnung macht, eine Perspektive zeigt. Das ist neu und ungewöhnlich für ihn. Der Leser kann am Ende aufatmen, ohne wenn es kein richtiges Happyend gibt. Die Zukunft dieser Kleinfamilie bleibt realistischerweise offen.

David Vann: Aquarium
Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
283 Seiten, 22,95 Euro