David Graeber: "Bürokratie. Die Utopie der Regeln"

Wie die Liebe zur Ordnung entsteht

Stempel in einer Amtsstube
Die Bürokratie der Amsstuben ist manchem verhasst. Doch feste Regeln können auch ihren Reiz haben, meint der Ethnologe David Graeber. © dpa/Robert B. Fishman
Von Eike Gebhardt · 02.05.2016
Bürokratie gilt zumeist als kalt und unpersönlich. Doch insgeheim lieben wir die Bürokratie, zeigt der Ethnologe David Graeber in seiner Analyse: Ihr Reiz beruhe auf unserer Angst vor dem Spielen, das auch zu Willkür und Destruktivität führen könne.
In den Hochzeiten sozialer Gärung, also den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, blühte die Kritik der bürokratischen Reglementierung unserer Lebenswelt. Mittlerweile sei das Thema weitgehend aus dem zeitgenössischen Diskurs verschwunden, klagt der US-amerikanische Ethnologe David Graeber, vermutlich wegen der unheiligen Allianz von Politik und Ökonomie.
Wir hätten die neoliberale Propaganda verinnerlicht, die angeblich Deregulierung fordere, aber nur wirtschaftsfreundlichere Regeln meine. Tatsächlich sei die Bürokratie seit den Tagen von Reagan und Thatcher nicht etwa geschrumpft, sondern kräftig gewachsen.
Die Linke aber – und das enttäuscht den bekennenden Anarchisten Graeber zutiefst – habe keine Bürokratiekritik mehr im Programm, nicht mal die einst so fruchtbare These von der "strukturelle[n] Gewalt, unter der ich tiefgreifende Formen der Ungleichheit verstehe, die durch Gewaltandrohung aufrechterhalten werden". Jeder Zwang, auch bürokratischer, sei schließlich eine Form von Gewalt. Dass er von legalen Institutionen ausgeübt werde, mache ihn nicht besser oder auch nur legitimer.

"Kultur der Komplizenschaft" von öffentlicher und privater Macht

Denn längst bildeten, so Graeber, öffentliche und private Macht eine "Kultur der Komplizenschaft": Sie versuchen, statt eines demokratiekonformen Marktes eine marktkonforme Demokratie zu etablieren. Zu wessen Gunsten dann die Regeln, die Gesetze und die zu ihrer Durchsetzung nötigen Bürokratien geschaffen werden, liege auf der Hand.
Das gelte auch für Begriffe wie "Freihandel" oder "freie Märkte", die in Wirklichkeit "den Aufbau globaler administrativer Strukturen" bezeichneten. Und selbst die neuen Kommunikationstechnologien, die angeblich Regeln spontan unterlaufen und umgestalten können, seien nichts anderes als eine weltweit verwaltete Kommunikation – also auch eine Form von Bürokratie.

Bürokratie verspricht Effizienz und Gleichheit

Warum aber lieben wir die Bürokratie insgeheim, wie Graeber behauptet? Im Gegensatz zu persönlichen und damit korruptionsanfälligen Sozialbeziehungen verspreche sie Effizienz, Transparenz, ja Gleichheit und Gerechtigkeit. Wir misstrauten Privatinteressen, die mit Vorliebe Gesetzes- und Bürokratielücken missbrauchten. So weit, so bekannt.
Überraschend aber ist Graebers These, dass "dem Reiz der Bürokratie letztendlich die Angst vor dem Spielen" zugrundeliege, vor Willkür und Destruktivität, die jeder "ergebnisoffenen Kreativität" innewohnten. Letztlich sei es also die Angst, nicht berechenbaren Mächten ausgeliefert zu sein. Graeber warnt jedoch:
Die "souveräne Macht [hat, ja ist] das Recht, … [scheinbar verlässliche] Rechtsauffassungen beiseite zu fegen oder sie je nach Bedarf neu zu begründen."

Die vermeintlich neutrale Bürokratie

Folter, Attentate und rechtsfreie Zonen könnten vom Souverän verfügt werden – so erkläre sich unsere Ambivalenz gegenüber bürokratischen Institutionen: zwischen der Sehnsucht nach einer "Utopie der [verlässlichen] Regeln" und der Angst vor Willkür, gegen die es keine Berufung gebe.
David Graeber gelingt eine Grundsatzkritik am Wirtschaftssystem. Wo die Politik zum Dienstleister der Wirtschaft wird, gerät die vermeintlich neutrale Bürokratie zur Interessenpolitik.

David Graeber: "Bürokratie. Die Utopie der Regeln"
Klett-Cotta, Stuttgart 2016
329 Seiten, 22,95 Euro

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