David Foenkinos: "Charlotte"

Malen, um nicht verrückt zu werden

Besucher betrachten im Jüdischen Museum in Berlin das Selbstporträt der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon aus dem Jahr 1940.
Besucher betrachten ein Selbstporträt der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon aus dem Jahr 1940. © picture alliance / dpa / Stephanie Pilick
Besprochen von Sigrid Brinkmann · 05.09.2015
Die Geschichte der in Auschwitz ermordeten Künstlerin Charlotte Salomon hatte David Foenkinos so berührt, dass er jahrelang über ihr Leben recherchierte. Das Ergebnis, ein Roman in Form eines Gedichts, wurde bereits mehr als eine halbe Million Mal verkauft. Nun ist er auf Deutsch erschienen.
Als der Schriftsteller und Drehbuchautor David Foenkinos 2006 die Pariser Ausstellung "Leben? Oder Theater?" mit Gouachen der 1943 in Auschwitz ermordeten Malerin Charlotte Salomon verließ, fühlte er sich schlicht überwältigt:
"Ich stand unter fremder Besatzung / Die Tage vergingen, aber das Gefühl blieb / Dann fing ich an, mir Notizen zu machen / Notizen über Notizen, jahrelang"
Foenkinos erzählt das Leben der Charlotte Salomon. Eine klassische Biografie zu schreiben, war für ihn ausgeschlossen. In die Rolle eines Zeitzeugen zu schlüpfen, ebenfalls. Der Roman gleicht einem langen, in kleine Abschnitte und große Lebensblöcke gegliederten Prosagedicht. Zeile für Zeile reiht der Autor Aussagen aneinander. Er stellt Fragen. Er formuliert seine Ohnmacht, wenn ihm bei Recherchen in Berlin, dem Geburtsort der Malerin, und im südfranzösischen Fluchtort Villefranche-sur-Mer die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde oder Anfragen unbeantwortet blieben.
Damit füllt David Foenkinos in Frankreich eine Wissenslücke. Auffällig ist, dass Literaten in den vergangenen Jahren immer wieder blinde Flecken aus der Zeit des Vichy-Regimes aufspüren und dabei gelegentlich der medialen Berichterstattung und der Geschichtsforschung vorgreifen. Auch Foenkinos suchte und traf Nachkommen wichtiger Zeitzeugen. Die Originalfassung des Romans "Charlotte" wurde schon mehr als eine halbe Million Mal verkauft. Am 9. Mai 2015 hat der 42 Jahre alte Autor Gedenktafeln am Rathaus und an einem Hotel in Villefranche-sur-Mer anbringen lassen. Achtzehn Monate lang hatte Charlotte Salomon sich dort in ein Zimmer zurückgezogen, um etwas Bleibendes zu hinterlassen. Die Furcht, im Exil verraten und an Deutschland ausgeliefert zu werden, trieb sie an. Dazu kam der Hass auf das Lügentheater der Eltern und Großeltern.
Fünf nahe Verwandte - die eigene Mutter, die Tante, die Großmutter, deren Schwester und deren Sohn - hatten sich das Leben genommen. Der Heranwachsenden wurde die Wahrheit beharrlich verschwiegen. Schon die ersten Sätze des Romans treffen den Kern des Lebensdramas.
"An einem Grabstein lernt Charlotte ihren Namen lesen / Es hat also schon eine andere Charlotte vor ihr gegeben / Ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter Franziska"
Als Charlotte Salomon 1940 erfuhr, wie und warum ihre Angehörigen aus dem Leben geschieden waren, wusste sie, dass sie "ihre Geschichte aufmalen" musste, um nicht verrückt zu werden. Foenkinos zitiert einen Satz, den die junge Künstlerin auf eine Gouache pinselte: "Ich muss tiefer in die Einsamkeit eindringen", und er setzt hinzu, was er in einer anderen Bildecke entdeckte: "Für eine Zeit von der menschlichen Oberfläche verschwinden".
David Foenkinos verknüpft und deutet unaufdringlich. Charlotte Salomon heiratete 1943 den österreichischen Flüchtling Alexander Nagler. In Frankreich fanden Judenrazzien statt, doch Nagler bekannte sich zum Judentum.
"Warum machen die beiden das? / Wahrscheinlich erreicht man früher oder später diesen Punkt / An dem man die eigene Nicht-Existenz nicht mehr erträgt"
Am Morgen des 21. September 1943 wurde das Paar per Telefon denunziert. Foenkinos ist Gerüchten nachgegangen. Er hält fest:
"Es gibt in Villefranche-sur-Mer Leute, die wissen, wer es war." Auch weil "heute noch verschwiegen werden muss, was jeder weiß", war es für ihn zwingend nötig, dieses Buch zu schreiben.

David Foenkinos: Charlotte
Aus dem Französischen von Christian Kolb
DVA München 2015
240 Seiten, 17,99 Euro

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