David Brooks: "Charakter - Die Kunst, Haltung zu zeigen"

Zwei Seelen ringen in unserer Brust

Bürgerrechtler Bayard Rustin
Bürgerrechtler Bayard Rustin in der Londoner Downing Street im April 1958. © imago stock&people
Von Susanne Billig · 18.11.2015
Anhand von Biografien wie der des amerikanischen Bürgerrechtlers Bayard Rustin hat der US-Journalist David Brooks über den Charakter von Menschen geschrieben. Jeder könne sich entscheiden, ob er tugendhaft lebe oder nicht.
In den Jahren 1950 und 2005 befragten Forscher in den USA Highschool-Zwölftklässler zu ihrer Selbsteinschätzung. Die Zahl der Schüler, die sich für eine "sehr wichtige Person" hielten, war in der Zwischenzeit von zwölf auf über 80 Prozent gestiegen.
In seinem neuen Buch "Charakter" nimmt David Brooks eine Gesellschaft kritisch unter die Lupe, die ihren Nachwuchs offenbar systematisch zum Narzissmus erzieht – und macht sich auf die Suche nach den Werten, für die es sich zu leben lohnt. Zwei Seelen ringen in der Brust jedes Menschen um ein Gleichgewicht, meint der bekannte konservative Kolumnist der New York Times: Adam I möchte Ruhm und Reichtum erwerben, sich durchsetzen, entdecken, bauen und erschaffen. Das sind die Qualitäten des modernen karrierebetonten Lebenslaufs. Demgegenüber stehen die "Trauerreden-Tugenden", die man auf Beerdigungen gern hervorhebt und denen Adam II zugeneigt ist: Wie liebenswürdig sind wir im Leben gewesen? Wie mutig, aufrichtig und treu? Wofür haben wir uns eingesetzt und mit welchem Maß an Hingabe und Demut?
In den zehn Kapiteln seines Buches porträtiert David Brooks Menschen, die dem zweiten Adam den Vorzug gaben und damit viel in der Welt bewirken konnten. Das ist kein einfaches Unterfangen und nur im ständigen Ringen mit Selbstzweifeln, Egoismus und Stolz zu verwirklichen – diese Einsicht schält das Buch glaubwürdig aus den Biografien heraus: Die Bürgerstochter Frances Perkins transformierte ihre Yankee-Erziehung zu Gehorsam und Pflichterfüllung in ein unermüdliches Engagement für die Rechte ausgebeuteter Fabrikarbeiter, bis sie 1933 als Arbeitsministerin das erste weibliche Kabinettsmitglied der Vereinigten Staaten wurde – und 1965 vergessen und einsam in einem Krankenhaus starb.
Fürsprecher des gewaltlosen Widerstandes
Den schwarzen Bürgerrechtler Bayard Rustin machte das Nachdenken darüber, wie süchtig es ihn nach wechselnden Liebhabern verlangte, zu einem unbedingten Fürsprecher des gewaltlosen Widerstandes gegen die Apartheid – als ein Weg, sich in einer emotional hoch aufgeladenen politischen Lage selbst zu zügeln und zu disziplinieren.
Das sind wunderbar verworrene, schiefe, von persönlichem Schmerz, öffentlichem Triumph, Selbstanklage und Selbstüberwindung geprägte Lebenslinien, die der Autor für sein Buch ausgräbt und mit moralphilosophischen Exkursen durchsetzt. Sprachlich kraftvoll und durchaus vielschichtig schreibt er über die Facetten der Demut, die Sprengkraft der Liebe und die Aktualität der Selbstentsagung. So saftig und süffig liest sich sein Buch, dass erst allmählich auffällt, wie apolitisch sein Ansatz ist.
Soziale Parameter der Persönlichkeitsentwicklung kennt der Autor nicht, statt dessen schiebt er seinem Publikum wie nebenbei das Heldenpathos des Militärs und die neurotische Sexualmoral eines Augustinus unter. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu seinen Themen hält er für nicht erwähnenswert, umso mehr seine persönlichen Ansichten und Bekenntnisse. David Brooks hat einmal mehr ein ebenso lesenswertes wie zwiespältiges Buch geschrieben. Auch seiner Identität als Adam I bleibt er treu: begabt, aber selbstgefällig.

David Brooks: "Charakter - Die Kunst, Haltung zu zeigen"
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt
Kösel Verlag, 2015
480 Seiten, 24,99 Euro