Dauerstreitfall Integration

23.02.2008
Der Brand in einem von Türken bewohnten Haus in Ludwigshafen und die umstrittene Rede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan vor 20.000 Türken in Köln hat die Diskussion um die Integration und ein Zusammenleben verschiedener Kulturen in Deutschland erneut aufleben lassen. Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, kann mittlerweile wohl niemand mehr bestreiten. Nur, welche Folgen und Chancen hat dies - für die Einwanderer, aber auch für die aufnehmende Gesellschaft? Was müssen beide tun, damit dieses Zusammenleben für beide Seiten erfolgreich verläuft?
Diese Fragen beschäftigen den Schriftsteller Zafer Senocak seit langem. Der gebürtige Türke kam 1970 mit neun Jahren nach Deutschland, seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache, seit 1992 hat er einen deutschen Pass.

"Da gibt es etwas, was wir verdrängen. Die Frage: Wie lebt man mit Menschen zusammen, die aus einem anderen Land kommen, die ihre eigene Geschichte mitbringen, ihre eigene Sprache, ihren eigenen familiären Hintergrund."

Der 46-Jährige beobachtet, dass sich gerade im Verhältnis von Deutschen und Türken vieles angestaut hat, was sich jetzt entlade. Das sehe man auch an dem Fall Marco, dem Streit um Moscheebauten, um Zwangsehen und Ehrenmorde. Die deutsche Mehrheit habe sich eine stigmatisierte Minderheit geschaffen – die Türken.

"Es gibt zum Beispiel demografische Ängste. Mittlerweile sind ein Drittel der Kinder, die in Berlin geboren werden, türkischer Herkunft. In manchen Straßen ist es mehr als die Hälfte! Insofern hat Erdogan genau die richtigen Begriffe gewählt. Das ist eine Art Landnahme, was da passiert. Die Frage ist, was kann man daraus machen? Viele Türken sind anpassungsfähig, sie wollen keine Inseln gründen. Sicherlich gibt es auch welche, die sich allem verweigern. Aber schlimm wird es, wenn die Medien diese Verweigerer kampagnenmäßig zur Mehrheit machen."

In Deutschland leben knapp 3,5 Millionen Menschen mit muslimischem Hintergrund, davon zwei Millionen türkische Staatsbürger, die könne und dürfe man nicht übergehen:

"Wenn man daraus eine Kulturdiskussion macht und sagt, daraus müssen 'gute Deutsche' werden, wie es Herr Beckstein formuliert, dann läuft da was falsch. Sind die Italiener gute Deutsche? Die denken gar nicht daran, die bleiben Italiener. Und mit recht. Und die Griechen machen es genau so. Haben Sie die Massen an Fahnen in Berlin gesehen, als das Kosovo seine Unabhängigkeit erklärt hat.? Aber das ist die Realität. Das ist unsere neue Welt!"

Der Schriftsteller rät – nicht nur Politikern, sondern auch jedem Einzelnen:

"Miteinander reden! Man muss die Ängste ernst nehmen. Ich gucke nicht wie ein Türke auf die Dinge, sondern ich versuche mir vorzustellen, was denkt ein älterer Deutscher, wenn sich seine Straße verändert, wenn immer mehr türkische Geschäfte auftauchen? Das kann gut sein, aber es kann eben auch Ängste hervorrufen und über die muss man reden."

Die Zuwanderung, das Zusammenleben verschiedener Kulturen – mit diesen Themen setzt sich auch Prof. Dr. Klaus J. Bade seit mehr als ein Vierteljahrhundert auseinander. Der Historiker ist Begründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und des bundesweiten Rats für Migration. Auch er sieht Versäumnisse auf beiden Seiten:

"Es ist nicht gelungen, eine Art emotional-identifikatorische, alles überwölbende neue Identität einer Einwanderungsgesell-schaft zu schaffen, eine gemeinsame Heimat. Dieses Bedürfnis nach Emotionalität wurde unterschätzt."

Die deutsche Politik hätte zu lange eine "defensive Erkenntnisverweigerung" gepflegt:

"Die Politiker haben es gesehen, aber sie wollten es nicht sehen, weil sie sonst hätten das Ruder herum reißen müssen."

Das hätten sie jedoch aus politischen und wahltaktischen Gründen nicht gewollt.

"Stattdessen gab es den Bannfluch 'Deutschland ist kein Einwanderungsland'. Nur, was man verdrängt, kann man nicht gestalten und was man verdrängt, muss man irgendwann teuer bezahlen!"

Der Migrationsexperte und Politikberater nimmt aber auch die zugewanderten Türken in die Pflicht:

"Da ist auch einiges falsch gelaufen, vor allem dass sie nicht erkannt haben, dass aus einem Arbeitsaufenthalt eine echte Einwanderungssituation wurde, in der man nur vorankommt, wenn man sprachfertig und qualifiziert genug ist. Auch da hätte das Aufnahmeland helfen können: 1973 gab es den Aufnahmestopp. Da hätte man denen, die bleiben wollten und noch keinen Aufenthaltsanspruch hatten, einen goldenen Handschlag mit klaren Forderungen anbieten sollen: Wir geben Euch fünf Jahre zum Lernen der deutschen Sprache und zur weiteren beruflichen Qualifikation mit unserer Hilfe. Wer das nicht will, soll wieder zurückkehren. Das hätten die auch verstanden."

Klaus J. Bade sieht - ähnlich wie auch Zafer Senocak - den dringenden Bedarf, das landläufige Bild der Türkei als rückständiges Land zu revidieren und die moderne Türkei mit all ihren inneren Entwicklungen und Widersprüchen anzuerkennen.

"Dringlich sind Pragmatismus, Verständigungsbereitschaft, das Wissen, dass man auf dem gleichen Boden steht. Das gegenseitige Angebot, Fehler einzugestehen und nicht an die andere Seite zu delegieren."

Sein Leitsatz: "Integration ist keine Einbahnstraße!"

"Dauerbaustelle Integration – Wie kann ein Zusammenleben gelingen?" Darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit dem Migrationsexperten Klaus J. Bade und dem Schriftsteller Zafer Senocak. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800-22542254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Informationen im Internet unter:
Migrationsforscher Klaus Bade

Literaturhinweis:
Zafer Senocak: Übergang - Ausgewählte Gedichte 1980-2005. Babel-Verlag München 2006
Zafer Senocak: Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch. Babel-Verlag, München 2006
Klaus J, Bade, u.a.(Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2007