"Das wird jetzt eine tunesische Welle durch den Nahen Osten geben"

Thomas von der Osten-Sacken im Gespräch mit Joachim Scholl · 09.02.2011
Einen knappen Monat, nachdem Staatschef Ben Ali nach Massenprotesten aus Tunesien geflüchtet ist, herrsche eine "wirklich revolutionäre Stimmung" in dem Land, sagt Thomas von der Osten-Sacken, Mitarbeiter Nichtregierungsorganisation WADI.
Joachim Scholl: Freiheit, Demokratie, Laizismus – diese Begriffe kann man derzeit als Graffiti überall in Tunis lesen. Auch Thomas von der Osten-Sacken hat sie selbst gesehen, er arbeitet für WADI e.V., eine Nichtregierungs-Hilfsorganisation, die sich um Aufklärung, Demokratisierung und Frauenrechte in der arabischen Welt bemüht. Thomas von der Osten-Sacken ist jetzt im Studio, ich grüße Sie!

Thomas von der Osten-Sacken: Schönen guten Tag!

Scholl: Sie kommen gerade von einer Reise nach Tunis zurück. Welche Stimmung haben Sie erlebt einen knappen Monat, nachdem der Diktator Ben Ali fluchtartig sein Land verlassen hat?

von der Osten-Sacken: Im Großen und Ganzen eine wunderbare Stimmung, also eine wirklich revolutionäre Stimmung so wie man sie aus den Büchern über, ich weiß nicht, Madrid '36 oder Frankreich 1789 kennt. Die Leute waren ausgelassen trotz Spannungen, die immer noch geherrscht haben, trotz kleinerer Zusammenstöße mit der Polizei, sehr stolz auf das, was sie erreicht haben und extrem politisiert. Also man konnte durch die Straßen laufen und im Prinzip mit jedem sofort ein Gespräch anfangen über die Zukunft, über das, was geschehen ist, über die Hoffnung und die Wünsche, die man nun für diesen Neustart in Tunesien hat.

Scholl: Vom Protest auf der Straße muss die Rebellion nun ja auch in die Plenarsäle, in die Parlamentszimmer. Ist die Opposition inzwischen politisch irgendwie organisiert?

von der Osten-Sacken: Das war eine Revolution wirklich der, also ich benutze das Wort nicht gerne, aber des Volkes. Das heißt, die Oppositionsparteien haben eine sehr geringe Rolle gespielt, sie sind überrollt worden. Aber, was ich den Eindruck hatte, ist, alle – also egal ob man mit Vertretern von Parteien oder mit Leuten einfach auf der Straße spricht – haben einen relativ klaren Kompass, was jetzt die nächsten Schritte sein sollen, die man dahin zusammenfassen kann, dass es die politische Revolution sozusagen jetzt noch so sechs bis acht Monate weitergehen soll in Form einer neuen Verfassung und dann von Neuwahlen, um dann das Land als neue Demokratie langsam zu beruhigen, weil man sich sehr bewusst ist, dass man abhängig ist vom Tourismus als Einnahmequelle, von ausländischen Investitionen.

Also man möchte da jetzt nicht einen Prozess von vier, fünf Jahren Chaos haben, sondern wirklich hat eine sehr, sehr klare Idee, die man auch zusammenfassen kann darin, dass die Menschen eine neue Verfassung wollen, in der das Parlament eine große Rolle spielt, und nicht mehr diese alten, diktatorischen Präsidialverfassungen, wie sie eben überall im Nahen Osten gang und gäbe sind. Transparenz, Medienfreiheit, Stärkung der Institutionen, und dann eben eine Ablösung der jetzigen Interimsregierung.

Scholl: Freiheit, Demokratie, Laizismus – inwieweit sind diese Parolen, die Graffitis wirklich Programm, was steckt dahinter?

von der Osten-Sacken: Also das war sehr spannend, wie haben teilgenommen an einer ersten organisierten Demonstration am Sonntag vor einer Woche von verschiedenen Frauenorganisationen, die unter dieser Parole eben auf die Straße gegangen sind und 3000 bis 4000 Teilnehmer/innen – es waren Männer so wie Frauen – mobilisiert haben, die sogar gefordert haben, dass die jetzige tunesische Verfassung, die für die arabische Welt schon eine sehr fortschrittliche Verfassung ist, vergleicht man sie etwa mit Ägypten oder Jordanien oder gerade im Iran, dass aus dieser Verfassung nun noch rausgenommen wird, dass der Islam Staatsreligion ist.

Also diese Gruppen möchten, was den Laizismus anbelangt, wirklich so eine Verfassung haben wie etwa die französische, wo es eine ganz, ganz klare Trennung zwischen Staat und Religion gibt. Und selbst die islamistischen Gruppen oder die den Muslimbrüdern nahestehenden Gruppen spüren diesen Druck. Und vor seiner Rückkehr hat der Führer der al-Nahda-Partei, also der Islamisten, gesagt, also mit ihm gebe es keine Scharia in der Verfassung. Also die Modernität in Tunesien, in dem ich jetzt auch schon seit einigen Jahren nicht mehr gewesen bin, hat mich sehr, sehr überrascht, und auch die Wünsche eben der Leute, dass man eine Art von Modell entwickelt jetzt, in dem eben Religion wirklich Privatsache ist.

Scholl: Man hört in diesem Kontext auch zunehmend weibliche Stimmen. Gewinnen die Frauen durch den Protest mehr Einfluss?

von der Osten-Sacken: Ja, also dieser Protest ist von Frauen wie Männern gleich getragen. Es ist erstaunlich, wie viele Frauen an allen Demonstrationen, auch an den Demonstrationen, an denen es noch zu Zusammenstößen mit der Polizei kam, beteiligt sind. Und es ist auch erstaunlich, aus welchen unterschiedlichen Schichten diese Frauen stammen. Also auf der Demonstration für Laizismus gab es durchaus sehr viele Frauen, die ein Kopftuch getragen haben, also verstanden haben, dass man gläubig sein kann und seinen Glauben auch sozusagen auf der Straße ausdrücken kann, ohne dass das zu einer Vermischung in der Politik kommen soll. Aber insgesamt, wenn man die Menschen in Tunis sieht – also jetzt nicht in der Provinz, aber in Tunis –, hat man eher den Eindruck, man wär in Griechenland oder in Spanien.

Scholl: Vom Protest zur Politik - die Entwicklung in Tunesien hat Thomas von der Osten-Sacken am Ort des Geschehens selbst verfolgt. Er arbeitet für die Hilfsorganisation WADI und ist jetzt bei uns im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch über den Aufstand im Iran und die westlichen Reaktionen mit herausgegeben. Herr von der Osten-Sacken, dort wird auch jene Frage reflektiert, also die jetzt angesichts der Ereignisse in der arabischen Welt immer gestellt wird: Welche Gefahr geht von den Islamisten aus? Das ist ja die zentrale Sorge westlicher Regierungen, dass hier reaktionäre, religiöse Kräfte plötzlich bestimmen können, jetzt gerade auch, worüber wir gerade gesprochen haben, der Laizismus, die Trennung von Religion und Staat … Wie ist das jetzt derzeit in Tunesien? Muss man hier Sorge haben, dass islamistische, also fundamentalistische Kräfte wieder das Sagen haben oder zurückkommen?

von der Osten-Sacken: Nun ich meine, sie werden sich organisieren, sie waren in Tunesien sehr, sehr verfolgt und verboten. Aber was die Tunesier auch selber sagten, ist, wir möchten jetzt gerne die Freiheit haben, uns wirklich mit ihnen auseinanderzusetzen, wir wollen Talkshows, in denen man über Laizismus diskutiert. Insgesamt habe ich in Tunesien keine Angst verspürt. Sehr wohl Sorge, aber keine unmittelbare Angst, dass jetzt die Muslimbrüder diese Revolution sozusagen für sich vereinnahmen. Im Gegenteil: Es gab einen Aufruf zu einer Demonstration der Islamisten, wir haben uns diese Demonstrationen angeschaut, das hatte 200 Mitglieder, das war weniger als auf jeder Spontandemonstration, die zeitgleich in Tunis stattgefunden hat.

Sie sprechen den Westen an: Ich denke, das Problem in der arabischen Welt ist, dass man jahrzehntelang ununterbrochen Diktaturen gestützt hat auch mit dem Argument, sie seien nun die letzte Bastion gegen den Islamismus. Zugleich hat man die besten Verhältnisse zu einem Land wie Saudi-Arabien, was das rückschrittlichste, islamistischste Land überhaupt in der Region ist und seit Jahrzehnten jede Art von salafitischer oder radikal islamischer Bewegung in der Region finanziert und unterstützt. Das heißt, die völlig inkohärente Politik gerade auch Europas hat auch dazu geführt, dass es eben in diesen Ländern oft keine andere Alternative gegeben hat als die Islamisten. Und wenn wir jetzt etwa Ägypten anschauen, hat ein Mubarak auch immer ein Interesse daran gehabt, dass diese Islamisten relativ stark sind, um dem Westen zu sagen, nach mir kommt die Sintflut. Und diese vergifteten Verhältnisse, die in all diesen Ländern seit Jahrzehnten herrschen und in diese unglaubliche soziale, ökonomische und politische Stagnation geführt haben, brechen jetzt momentan glücklicherweise endlich auf …

Scholl: … entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Herr von der Osten-Sacken, aber nun registrieren die Menschen in Tunesien ja durchaus diese Reaktion des Westens, also immer sofort die Sorge nach dem, nach der Rückkehr des Islamismus Wiedererstarken dieser Kräfte. Ich meine, welche Erwartungen haben die Menschen, die Sie getroffen haben, an den Westen?

von der Osten-Sacken: Nun die Leute haben sich sehr darüber gefreut, dass die Amerikaner in der letzten Sekunde sozusagen umgeschwenkt sind von der Stützung dieses Diktators Ben Ali. Am 13. Januar hat ja Hilary Clinton entsprechend noch eine Äußerung im Jemen getätigt. Mit Frankreich und Deutschland hat man sehr, sehr schlechte Erfahrungen gemacht, die Franzosen haben ja noch bis zum letzten Tag Tränengasgranaten an Tunesien geliefert.

Man fühlt sich da einfach in einer gewissen Hinsicht im Stich gelassen, man sieht, dass gerade Europa beste Beziehungen zu dieser tunesischen Diktatur unterhalten hat, und ist hochgradig unzufrieden, hochgradig verärgert darüber. Was man möchte, ist Normalität. Die Leute haben auch immer gesagt, was wir hier machen, ist nicht die iranische Revolution, vergleicht das doch bitte mit der Nelkenrevolution in Portugal, das ist der Vergleich, wir wollen nicht immer, dass alle Leute uns ununterbrochen unterstellen, wir möchten jetzt hier eine Scharia-Republik eröffnen. Wir wollen endlich normal sein, wir wollen ein ganz normales, mediterranes demokratisches Land sein, und nicht mehr diese Art von Sonderbehandlung erfahren, die wir in den letzten Jahrzehnten erfahren haben.

Scholl: Von Tunesien ging die Protestbewegung aus. Wie blickt man nun von dort, ja, zum Beispiel nach Ägypten?

von der Osten-Sacken: Mit gemischten Gefühlen, weil die Tunesier wissen: a) sind sie ein kleines Land, b) sind sie wirklich keine Schaltstelle der ganzen Region, und c) ist ihr Bildungsstandard und ihre ökonomische Situation weit besser als in Ägypten. Das ließ sich immer ganz gut zusammenfassen in dem Satz, na gut wir sind jetzt das Vorbild, die machen uns nach, zum Glück hat es in Tunesien angefangen, und nicht im Jemen, stellt euch vor, die Ägypter würden jetzt sozusagen den Jemen kopieren, also mit einer gewissen Ironie. Aber was die Tunesier in ihrem jetzt auch Stolz über das Erreichte ganz klar feststellten, ist: Das wird jetzt eine tunesische Welle durch den Nahen Osten geben und es wird einige Länder geben, die reformfähig sind, das hat man uns immer wieder gesagt – also Marokko, Algerien, Jordanien, Irak, das sind Länder, die sind keine Diktaturen, die können sich positiv verändern –, in anderen Ländern müssen die Diktatoren gestürzt werden. Und da wurde dann immer als Beispiel eben Ägypten, Syrien, der Iran, der Sudan angeführt.

Das heißt, man hat da eine recht klare Vorstellung, dass, was in Tunesien beginnt, jetzt in diesem Jahr oder in den nächsten Jahren immense Auswirkungen auf diese ganze Region haben wird, und führte in verschiedensten Gesprächen halt immer als Beispiel sozusagen 1989 im Ostblock an, wo in dem kleinen Land Tschechoslowakei eben sozusagen der Impuls ausging auf eine grundlegende Veränderung dieses ganzen ostmitteleuropäischen Warschauer Paktes.

Scholl: Wohin steuert Tunesien? Das waren Beobachtungen und Meinungen von Thomas von der Osten-Sacken von der Organisation WADI e.V. Herzlichen Dank für Ihren Besuch und das Gespräch!

von der Osten-Sacken: Ganz herzlichen Dank an Sie!
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