Das widersprüchliche Leben eines Dienenden

Rezensiert von Niels Beintker · 30.12.2012
Der General Ulrich de Maizière gilt als Vater der so genannten Inneren Führung der Bundeswehr, die den Soldat als "Staatsbürger in Uniform" betrachtet. De Maizière diente aber auch schon in der Reichswehr und Wehrmacht, die er als von Hitler missbraucht ansah. Sein Biograf zeichnet eine detaillierte Vita, deren Brüche er aber nicht schlüssig ergründen kann.
Der Titel der Studie klang recht harmlos. Generalleutnant Albert Schnez, Inspekteur des Heeres, wollte demnach nur einige "Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung" der bundesdeutschen Streitkräfte vorlegen. Tatsächlich aber enthielt seine Schrift aus dem Jahr 1969 einen massiven Angriff auf das Prinzip der Inneren Führung der Bundeswehr und auf einen ihrer wichtigsten Fürsprecher, Generalinspekteur Ulrich de Maizière.

Albert Schnez behauptete unter anderem, der Einsatzwert des Heeres sei trotz verbesserter Bewaffnung gesunken, der Kampfgeist der Soldaten habe nachgelassen. Zudem existiere eine zunehmende Kluft zwischen dem Führungskorps und einer Gesellschaft, die dem Staatswohl und der Sicherheit nicht immer den gebührenden Rang einräume.

Das Fazit: Die Forderung nach der Integration der Soldaten in die Gesellschaft, die große Idee des Staatsbürgers in Uniform, sei revisionsbedürftig. Der damalige Verteidigungsminister Gerhard Schröder ließ das Dossier sofort als Geheimsache einstufen. Ulrich de Maizière selbst wertete es – etwas gelassener – als interne Diskussionsgrundlage.

Und er wiederholte, die Bundeswehr sei Teil der Gesellschaft und nicht dazu da, diese zu ändern. Er blieb damit bei seinem Konzept, urteilt de Maizières Biograf John Zimmermann.

"‘Innere Führung‘ ist moderne, zeitgemäße, militärische Menschenführung von den Grundlagen unserer rechtlichen und sozialen Ordnung her auf die Verteidigung hin."

Die Diskussion darüber bestimmte einen großen Teil der Arbeit Ulrich de Maizières als Generalinspekteur. Und das sei eines seiner großen Verdienste, meint der Biograf, die Grundsätze für den Aufbau der Bundeswehr gegen alle Kritiker verteidigt zu haben – Heeresinspekteur Schnez war nur einer von ihnen.

Ulrich de Maizière hatte als Soldat und Generalstabsoffizier der Wehrmacht das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg erlebt. Nach Kriegsgefangenschaft und Buchhändlerlehre kehrte er recht bald zum Militär zurück, trat in das Amt Blank ein, die Keimzelle des künftigen Bundesverteidigungsministeriums, und wurde 1951 militärischer Berater Walter Hallsteins - während der Verhandlungen über eine Europa-Armee.

Später war de Maizière an der Ausarbeitung der Richtlinien für den bundesdeutschen NATO-Beitritt beteiligt und wirkte entscheidend am Aufbau der Bundeswehr mit. Er galt als pragmatischer und konsensorientierter Reformer und teilte, so John Zimmermann, die politischen Grundsätze Konrad Adenauers.

"Freiheit und Wohlstand durch eindeutige Westbindung, deren politische Wurzeln in Europa mit der deutsch-französischen Verständigung als Herzstück, deren militärische in der transatlantischen Verbindung verankert sein sollten."

Sowohl die Sicherheitspolitik als auch die Armee der jungen, damals noch westdeutschen Bundesrepublik sollte von altem militärischen Geist befreit werden, dem neuen Grundgesetz folgen, welches das Land auf Frieden und Bündnistreue verpflichtet. Und doch weist John Zimmermann darauf hin, dass de Maizière seine Rolle in der früheren Wehrmacht nur bedingt kritisch sah.

Schon als junger Soldat, der sich zum Staatsdienst berufen fühlte, war er in den Dreißiger und Vierziger Jahren bis in den Generalstab aufgestiegen und nahm am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion teil, unter anderem am sogenannten Unternehmen "Zigeunerbaron", einer Militäraktion gegen Partisanen im Vorfeld der Schlacht am Kursker Bogen.

Von den Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten wollte de Maizière nach eigenen Angaben erst sehr spät erfahren haben, von den Vernichtungslagern sogar erst nach dem Ende des Krieges in der britischen Gefangenschaft. Solche und andere Aussagen finden sich in der Autobiografie des Generals wie auch in persönlichen Dokumenten der Kriegszeit.

John Zimmermann hält sie typisch für de Maizières Generation. Der Gedanke der Pflichterfüllung stand demnach über der moralischen Reflexion. Beispielhaft ist eine Rede de Maizières zum 20. Jahrestag des gescheiterten Attentates auf Hitler vom 20. Juli 1944.

"Tausende, ja Millionen deutscher Soldaten waren überzeugt, in gewissenhaftem Gehorsam und aus der Sicht ihres Verantwortungsbereiches heraus ihre soldatische Pflicht zu erfüllen. Die Motive ihres Handelns waren, von Ausnahmen abgesehen, ehrenhaft.

Viele wussten ja auch nicht, was sich hinter der äußeren Fassade des Nationalsozialismus wirklich verbarg, und so sie es ahnten, glaubten sie, der Abwehr des äußeren Feindes, dem Schutz der Familie und Heimat, dem soldatischen Gehorsam den Vorrang geben zu müssen."


Der Vorwurf und die Entschuldigung, die Wehrmacht sei von Hitler missbraucht worden, bestimmte die zeithistorische Sicht Ulrich de Maizières. Es wäre sehr spannend zu erfahren, wie er, im hohen Alter, damit umging, dass Forschung und Politik die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg neu bewerten, beispielsweise angeregt durch die beiden Ausstellungen des Hamburger Institutes für Sozialgeschichte.

Leider thematisiert John Zimmermann diesen Aspekt nicht, gibt lediglich einen kleinen, allgemeinen Hinweis. Es ist dies einer der Mängel der Biografie. Denn die Einsicht, das auch die Wehrmacht – wie alle staatlichen Institutionen und nicht nur sie – mitschuldig an nationalsozialistischen Verbrechen war, rechtfertigt ja um so mehr de Maizières Konzept der Inneren Führung der Bundeswehr.

Ein anderer Mangel ist es, dass sich der Autor nur knapp mit der Position des Generalinspekteurs zur Wehrdienstverweigerung auseinandersetzt.

Er habe sich immer zuallererst als Soldat verstanden und zum Soldaten bekannt, fasste Ulrich de Maizière sein Berufsleben in einer Ansprache zusammen. Die widersprüchliche Loyalität, die sich erst in den Dienst einer verbrecherischen Diktatur, dann in den einer freiheitlichen Demokratie stellt, hat ihn umgetrieben.

Mag sein, dass seine persönliche Auseinandersetzung mit dieser Frage noch unfertig war, für die Zukunft hatte er eine wegweisende Konsequenz aus seiner Lebenserfahrung gezogen und sich deshalb intensiv dafür engagiert, die Bundeswehr in eine demokratische Gesellschaft zu integrieren.

John Zimmermann, Historiker am militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam, legt eine sehr genaue, detaillierte und ausgewogene Studie vor. Sie beschreibt exemplarisch eine Biografie, die von schroffen Brüchen und eigentümlichen Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts bestimmt gewesen ist.

John Zimmermann: Ulrich de Maizière - General der Bonner Republik, 1912-2006
Oldenbourg Verlag, München 2012