Das Wende-Genie

Von Matthias Biskupek · 23.08.2010
Seit mehreren hundert Jahren ist der Sachse ein großartiger Opportunist. Sein wendiges Wesen, in weesch fließender Sprache kenntlich, überstand vieles. Die letzte große Erschütterung in der sächsischen Geschichte, mit Leipzig verbunden, das vor 20 Jahren fast den Beinamen "Heldenstadt" bekommen hätte, ist Anlass, nachzufragen: Wie zieht sich das wendige sächsische Wesen durch die Zeiten?
Heidi: "Ich denke, dass die Sachsen nich so bequem sind wie manch andere Bevölkerungsgruppen. Wenn denen was nich passt, denn sagen die das."

Stefan: "Also ich bin der Meinung, der Sachse ist einfach anpassungsfähig."

Ja wie denn nun? Ist der Sachse anpassungsfähig oder unbequem? Heidi sagt so und Stefan sagt so. Wir sagen mal so: Der Sachse hat eine lange Geschichte. Und die hängt ihm am Hacken, weshalb wir sie zunächst kurz referieren müssen.

Vor gut 1000 Jahren lebten im Gebiet des heutigen Freistaats die Wenden. Ist der Name nicht sprechend, fürwahr? Ist er nicht schon unser Thema?

Anke: "De Wenden sinn ja eischendlisch de Sorben. Und de Sorben sind Slawen. So gesehen duhd in uns allen ä bissel was Bollnisches stecken."

Ein gewagter Vergleich. Aber hatte man nicht auch in der polnischen Adelsrepublik über die Jahrhunderte hinweg Probleme mit den umliegenden Siegern?

Da hören Sie's. Und wenn Sie ganz genau hinhören, gibt es in der heutigen sächsischen Sprache noch immer ein gerüttelt Maß von jenen klangvollen polnisch-stimmhaften Zischlauten.

Anke: "Mir glubschen, wemmer dumm guckn duhn. Unn midm Nischl durchwurschdln - sou de glassche Art, was rischdsch zu machen."

Doch alle Sprachvergleiche können nichts daran ändern, dass sowohl die Zeiten einer stolzen polnischen Adelsrepublik, als auch eines prachtvollen sächsischen Kurfürstentums lange vorbei sind. Und jene Polen und Sachsen verbindende Königskrone ist längst in den Staub der Geschichte gerollt. Leider.

Gewiss, das Ganze 17. und 18. Jahrhundert lang waren Sachsens Glanz und Preußens Gloria bestimmend in der Mitte Deutschlands.

Anke: "Mir warn doch reisch! Dann hamm die Preußn midd ihrn Friedrich Zwoo Feldzüche gemachd und daadn uns de Felder zerlaadschn. Deswechn hadd meine Mudder ooch immer gesachd: Ich mach das doch ni fürn Aldn Fridds, wenn mir Kinner de Wohnung dreggsch gedrambld hamm."

Dennoch war zu Beginn des 19. Jahrhunderts Sachsen noch immer mächtig und gewaltig reich, doppelt so groß wie der heutige Freistaat. Und als Napoleon dem sächsischen Fürsten eine Königskrone bescherte, schien alles in Butter.

Heidi: "Mir waren total unrevolutionär."

O nein, denn als der Franzmann, wie es damals hieß, die deutsche Lebensart umkrempeln wollte, erhob sich aus der Mitte Sachsens lyrischer Protest. Denn wo kam der Sänger der Befreiungskriege, ein gewisser Theodor Körner, her? Aus Dresden! Und so klang denn auch sein "Bundeslied vor der Schlacht"

Körner: "Hinter uns, im Grau'n der Nächte,
Liegt die Schande, liegt die Schmach,
Liegt der Frevel fremder Knechte,
Der die deutsche Eiche brach.
Unsre Sprache ward geschändet,
Unsre Tempel stürzen ein;
Unsre Ehre ist verpfändet,
Deutsche Brüder, löst sie ein!
Brüder, die Rache flammt! Reicht euch die Hände,
Dass sich der Fluch der Himmlischen wende!
Löst das verlorne Palladium ein!"

Wir schauen mal kurz im sächsischen Ruhmeswörterbuch nach. Ein Palladschum, korrekt Palladium, gibt es in Köln, London und Prag. Palladschum, so weit die sächsische Zunge reicht. Denn vor jeder Wende ins Glück weiß der Sachse schon, wie es sein wird:

Körner: "Vor uns liegt ein glücklich Hoffen,
Liegt der Zukunft goldne Zeit,
Steht ein ganzer Himmel offen,
Blüht der Freiheit Seligkeit.
Deutsche Kunst und deutsche Lieder,
Frauenhuld und Liebesglück,
Alles Große kommt uns wieder,
Alles Schöne kehrt zurück."

Das Große und Schöne ging nach den Befreiungskriegen zunächst an den Sachsen vorbei. Noch während der Leipziger Völkerschlacht versuchten die Sachsen die Kurve, also die Wende zu kriegen. Doch ihr Geenich, Friedrich August der Erste, wendete sich falsch rum – und stand siegessicher auf der Seite der französischen Verlierer, saß also dann in preußischer Gefangenschaft. Seine Truppen hingegen liefen mitten in der Schlacht zu den Siegern über.

Anke: "Daad aber nischd nitzen. De halbe Gechend hamm de Preußen uns danach geklaut. Mitsamdn allen lewwendchn Saggsn."

Doch auch unter dem bis heute währenden brandenburgisch-preußischen Joch bewiesen diese verlorenen Sachsen ihre Wendigkeit. Sie bemühten sich sogleich, zu berlinern. Und schickten sich in ihr künftiges preußisches Schicksal, was Stefan erklären kann.

Stefan: "Der Sachse ist von Grund auf, glaube ich, schon gemütlich. Und einen gemütlichen Menschen so weit zu bringen, dass ihm mal der Geduldsfaden reißt, ist nicht einfach, aber wenn es das dann so weit ist und wenn der Tropfen dann das Fass zum Überlaufen bringt, dann ist halt ziemlich viel, was sich da angestaut hat und dann geht's auch richtig los."

Vorerst aber ging die deutsche Geschichte richtig los. Im Krieg 1870/71 standen die Sachsen zum ersten und fast einzigen Mal an der Seite der Sieger. Unter preußischer Vorherrschaft ging es wirtschaftlich in Sachsen so wie immer: voran. Und von allen Nationen nahmen sich die Sachsen, was ihnen imponierte. Als Beinamen.

Anke: "Hier, Dräsdn – das Elbflorenz. Chemnitz, - sächssche Mennschesdor. Mei Leibzsch lob ich mir, Glein-Baries, das hammer Geethe zu verdanken, nu der woar jo ni direggt ä Saggse."

Doch kaum war das 20. Jahrhundert hereingebrochen, wurde auch in Mitteldeutschland die sächsische Fischelanz von der preußischen Amtstubenherrlichkeit abgelöst.

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg dachte man in Sachsen schnell um. Mit den Deutschnationalen, das hat also nicht so geklappt. Versuchen wir es mal ganz anders. Und schon hatte man in Sachsen eine Regierung aus Sozialdemokraten und Kommunisten.

Anke: "Wenns so rum ni gehd, versuchn mir Saggns s ähm gerne mah anderschrum."

Stefan: "Ich glaube auch, dass die Sachsen nicht wirklich äh politisch nachgedacht hamm oder aus politischen Motiven heraus gehandelt haben, war ja eigentlich auch nicht, das war, wie überhaupt, sag ich, der Sachse an sich, finde ich jetzt persönlich, sehe ich mich zum Teil auch so – weniger politisch ist, sondern vielmehr so – wie schon zu August des Starken Zeiten – ein bissel der Kunstsinnige und ein bisschen so. Und da muss man halt sehen wie man sich und seine Kunstschätze halt in Sicherheit hält. Und vielleicht ist das, was den Sachsen – hm – nicht Wende-, als Wendehals oder Ähnliches macht – er ist einfach anpassungsfähig. Ein typisches sächsisches Wort, der ist halt fischelant."

Die ganze Fischelanz nützte aber nichts. Der Sachse war nämlich im kommenden Zweiten Weltkrieg wieder auf der Seite der Verlierer. Und dieses Mal richtig. Denn das zu Beginn der 1920er rote Sachsen war ganz schnell braun geworden. Gauleiter Mutschmann, ein Sachse, oder wenn man denn die feinen Unterschiede betonen möchte, ein Vogtländer, wurde sogar vom sächsischen Volk ob seines Dialekts verlacht. Denn natürlich war diese weesche, abgeschliffne Sprache einer Welt unangemessen, in der es hart, männlich, kantig und allzeit siegreich zugehen sollte.

Anke: "Nachm zweeten Weltkriech haddmer widder verlorn. Erschd mah den ganzen Griech – un dadernach warmer ooch noch uff der richdsch falschen Seide gelandet."

Doch weil sich die Deutsche Demokratische Republik als Siegerin der Geschichte verstand, war deren Kernvolk, die Sachsen, alsbald wieder an der Täte. Und deren wichtigster Sprecher machte das Sächsisch im großen weiten Westen, Süden und Norden Deutschlands zum unbeliebtesten Dialekt.

Ulbricht: "Ihr habt hier am heutigen großen Ehrentag und Leistungstag die Losung 'Unser Eisen fließt für den Frieden'. Und über diese Losung ist das Bild des großen Bannerträgers für den Frieden Generalissomo Stalin."

Es war aber auch zu traurig, wenn die schönsten lyrischen Momente, wie zum Beispiel markige Verse des Arbeiterdichters Kurt Schramm, im Sächsischen ins Gegenteil verkehrt wurden.

Anke: "Dor Kumbel aus dem Schachde kriechd!
Gliggauf! Dor Sozjalismus siechd!"

Um lyrisch anzuschließen: Das wahrhaft Sächsische in seinem Lauf / hält weder Ochs noch Esel auf. Und so bewegte sich auch die sächsische Geschichte unaufhaltsam auf das Jahr 1989 zu. Und hernach wusste einer der größten Sachsen der neueren deutschen Geschichte – auch wenn er aus dem zeitweilig unter preußischer Herrschaft stehenden Halle an der Saale kam - wie das alles gelaufen war:

Genscher: "Die Mauer ist vom Osten her zum Einsturz gebracht worden, ganz friedlich von Menschen aus unterschiedlichen Schichten. Die Menschen haben es gemacht und wenn wir heute zwanzig Jahre zurückblicken, wird mein Respekt mit jedem Tag, den ich lebe, noch größer von denen, die damals mit großer Verantwortung Freiheit gefordert und Rache und Gewalt vermieden haben."

Außenminister Genscher wusste schon: Mit Rache und Gewalt hatten es die Sachsen nie so sehr, auch wenn der Sachse nicht nur helle und heeflich, sondern gelegentlich auch mal heemtücksch ist. Und seine Ziele gar listig durchsetzt. Frank hat im Herbst 1989 erlebt, wie die Berliner zur friedlichen Revolution gezwungen werden mussten.

Frank: "Wir ham uns dann ausgetauscht und in Sachsen brodelte das schon so richtig ordentlich, also Leipzig besonders und Dresden natürlich auch, und Chemnitz, und da waren dann so Zeichen, Demonstration, Zusammentreffen deutlich sichtbar und in Berlin tat und tat sich nix. Die Berliner haben immer nur mit den Wimpern geklimpert, wenn wir uns da über die Situation unterhalten haben, ja wir jetzt als Sachsen, ganz gestaunt, hamm wir haben gesagt: Da müssen mal nach Berlin, wir müssen mal richtig mitmischen. Was ja nicht so ganz einfach gewesen ist, denn als subversives Element hat man sich ja ruckzuck 'n Berlin-Verbot eingehandelt und das hat die ganze Sache dann natürlich doppelt spannend gemacht: Da mal hinzufahren und einfach bissel bissel mitzumischen, und ähm, zu unterstützen, Anleitung zu geben, also diese Situation, wie die Revolte gewandert ist, sich aus dem Süden der Republik langsam Richtung Norden vorgearbeitet hat – also bis Berlin hats schon ne Weile gedauert."

Gegen alle Widerstände wie das grausame Berlin-Verbot, haben sich Sachsen aber tapfer gewehrt. Und können heute erzählen, wie sie direkt im preußischen Herzen den Mauerfall bewirkten. Heidi war beim historischen Moment dabei.

Heidi: "Ich war in Berlin! Ich hab das hautnah erlebt. Wir hamm abends für russisch gelernt in der Uni, also nicht in der Uni, sondern zu Hause, im Bett, im Wohnheim und hamm diese Nachricht mitbekommen: Die Grenzen sind offen. Keiner hat's geglaubt. Da hamm wir uns in unser Bett gelegt und hamm geschlafen. Und dann kam früh, als wir dann zum Russisch-Seminar aufbrechen wollten: Die Grenzen sind offen. Jetzt probieren wir's!
Dann sind wir losgezogen. Und sind hinten bei uns an der Invalidenstraße, über die Grenze rüber, kurz mah gucken und wieder zurück und zum Russisch-Seminar. Das war unser Tag. Wir waren total unrevolutionär. Wir hamm ja Angst gehabt, dass wir Ärger kriegen, wir nicht zum Seminar kommen. Kannst ja nich einfach wegbleiben, geht ja nicht."

Einfach wegbleiben, das tut der Sachse nicht, auch wenn es historisch zugeht. Den wahren Grund aber, warum in Sachsen das Herz der friedlichen Revolution so heftig pochte, weiß vielleicht Ines.

Ines: "Ich denk ma an de Äppel unn an de Banoonen und an de Appelsinen hats wo ni gelegen. Aber mir wollten halt o mah Westfernsehn haben.
Die Leute warn ganz sicher mitn politischen Gegebenheiten unzufrieden, die wollten - raus, reisen o mah was anders sähn, was anders einkaufen.
Die hatten die Botschaften besetzt, so weit ich das weeß, in Broog und ieberall. Und die Züge mit denen Flüchtlingen, die dann dort rausgelassen wurdn und in die BRD fuhren – die fuhrn ja durch Sachsen durch. Und ich denke, dass das mit ä Hauptgrund gewesen ist, dass die Leute hier dann so verrückt gespielt hamm. Grad uff den Bahnhöfen."

Schon Revolutionär Lenin wusste: Die Revolution muss die Bahnhöfe besetzen. Auch wenn deutsche Revolutionäre zuvor eine Bahnsteigkarte lösen.

Anke: "Ich bin ja jeedes Wochenende von Gorr-Morrgs-Schdodd nach Middweida zu meiner Oma gefahrn. Un sonndaachs widder zerick. So als Sechsjährsche kam doch meine Mudder bis ran an'n Zuuch un in Middweede ähmd dann meine Oma. Die 20 Pfennsche fier die Bahnsteichkarde jedesmah, die dahd dähn weh. Späder hamm die mich einfach fremdn Fraun midgegähm."

Vielleicht hat die teure Bahnsteigkarte den Unmut geschürt. Oder waren es doch sächsische Rand-Lagen, die den Sachsen zum Vorreiter jener Revolution machten und die ihn heute als wahres Wende-Genie erscheinen lässt?

Ines: "Ich würd sagen, dass vielleicht wirklich de Unzufriedenheit hier mit am größten war, weil's einfach wirklich weniger gab. Mir sind nach Berlin gefahren um uns zum Beispiel Hoh-Milch zu kaufn."

Stefan: "Aber das war halt auch – hm - vielleicht der Tatsache geschuldet, das wir'n bisschen weiter weg warn vom Westen und vielleicht uns das etwas goldener vorgestellt haben – als es die anderen getan haben."

Doch inzwischen ist es so gekommen, wie der patriotische, fischelante und zugleich wendewillige Sachse es sich wünscht. Der Freistaat steht an der Spitze. Der neuen Länder. Der Sachse ist, wenn wir mal ein altes Bild nutzen wollen, wiederum die Vorhut der Massen. Und in diesem Sinne kommen wir zum gereimten Schluss der gelegentlich ungereimten sächsischen Geschichte, die – irgendwie eigenartig – auch an das "Lied der Partei" erinnert.

Lied des Sachsen: "Man hat uns alles gegeben.
Sonne und Wind und man geizte nie.
Wo wir warn, war das Leben.
Wo wir auch sind, isses schie.
Der Freistaat wird niemand verlassen.
Friert auch die Welt, uns ist warm.
Uns schützt das Fehlen der Massen.
Wir halten fest uns im Arm.

Ja dabei! ja dabei! ist der Sachse stets!
Und er bleibet nun allzeit dabei.
Denn wer Sächsisches liebt,
Kriegt nie was uffn Deez,
Sondern macht sein Gewissen sich frei.

Wer den Freistaat beleidigt,
Ist dumm oder schlecht.
Wer den Sachsen verteidigt,
Hat immer Recht.
So aus Biedenkopfs Geist,
Wirds von Tillich geschweißt.
Und der Sachse ist immer dabei!"

Es reicht.