"Das war ein Mann seines Jahrhunderts"

Moderation: René Aguigah und Winfried Sträter · 21.09.2010
Der israelische Historiker Tom Segev hat eine Biographie über Simon Wiesenthal geschrieben. Wiesenthal sei gegen Racheakte gewesen, sondern glaubte an Recht und Gerechtigkeit, so Segev. Sein Antrieb sei eine Art Schuldgefühl den Holocaustopfern gegenüber gewesen, weil er überlebt habe.
Britta Bürger: Simon Wiesenthal hat das 20. Jahrhundert in all seinen Tiefen miterlebt, er selbst ist schon zu Lebzeiten als Nazijäger in die Geschichtsbücher eingegangen. Fünf Jahre nach seinem Tod hat Tom Segev jetzt eine neue Biografie über Simon Wiesenthal geschrieben. Darin stützt sich der renommierte israelische Historiker und Journalist ausschließlich auf Originalquellen: auf Briefe, Geheimdienstdossiers und andere bislang unbekannte Quellen. Bislang hat Tom Segev vor allem über die Geschichte Israels geschrieben, nun also die Lebensgeschichte eines Mannes, der für die Aufarbeitung der NS-Geschichte vorbildlich war wie kaum ein anderer. Meine Kollegen Winfried Sträter und René Aguigah haben Tom Segev zur Arbeit an seinem neuen Buch befragt, zunächst danach, was ihn daran interessiert hat, Simon Wiesenthals Biografie zu schreiben.

Tom Segev: Als sich die Gelegenheit ergab, bin ich erst mal in dieses alte Büro von Wiesenthal gefahren in Wien, und hab so ein bisschen rumgestöbert in den Akten und hab eine Akte genommen von 1945. Und da kann man so sehen, eigentlich ein Holocaustüberlebender, er war gerade aus dem KZ Mauthausen gekommen, und man kann sehen, er wiegt 40 Kilo, und das ist ein Holocaustüberlebender, eigentlich ein lebendiges Skelett, er weiß nicht genau, was mit sich anzufangen, er weiß nicht, was mit seiner Zukunft und ...

Wenn Sie dann weitergehen an dem Regal, so hab ich eine Akte aus den 80er-Jahren in die Hand genommen, und da liegt ein Brief auf Englisch: Lieber Simon, pass gut auf auf dich, bleib uns gesund, wir brauchen dich, wir lieben dich, unterschrieben Elizabeth Taylor. Da hab ich gedacht, das ist eigentlich sehr dramatisch, wie er von dem allertiefsten Tief es dazu gebracht hat, dass er eine weltweit moralische Autorität ist. Und ich hab mich, glaube ich, auch nicht geirrt, denn es stellt sich heraus, dass er wirklich ein ungeheuer faszinierender Mensch gewesen ist.

René Aguigah: Schon die Lebensdaten von Simon Wiesenthal weisen ja darauf hin, dass er eigentlich ein Jahrhundert umschließt: 1908 geboren, 2005 gestorben ...

Segev: ... ja das stimmt, ja ...

Aguigah: ... und in dem Moment der Befreiung aus Mauthausen ist er eigentlich dann relativ schnell zu dem Nazi-Jäger geworden, als der er dann so ...

Segev: ... ja, innerhalb schon von Tagen! ...

Aguigah: ... von Tagen. Können Sie das auf einen Punkt bringen, was ihn zu dem gemacht hat, als das er dann so strahlend bekannt wurde?

Segev: Also erst mal haben Sie recht, dass er wirklich ein Mann seines Jahrhunderts ist. Also das ist ein Mann, der sich noch erinnern konnte, wo er zum ersten Mal ein Auto gesehen hat als Kind in Wien. Und er ist alt genug geworden, um noch zu protestieren gegen Neonazispiele im Internet. Also da kann man schon sehen, was für ... das war ein Mann seines Jahrhunderts. Er glaubte an das liberale Rechtssystem, er glaubte an Amerika, er glaubte an die Kraft der Medien. Also er war schon sehr ein Mann des 20. Jahrhunderts. Er hat innerhalb von 20 Tagen, nachdem er befreit worden war, die erste Liste von mutmaßlichen NS-Verbrechern den amerikanischen Besatzungsmächten gegeben, was darauf hinweist ...

Aguigah: ... wo hat er die hergehabt? ...

Segev: ... was wahrscheinlich darauf hinweist, dass er sich das schon vorher überlegt hat, während er noch Gefangener war und so irgendwie die Namen sich gemerkt hat. Er hatte ein ungeheuer gutes Gedächtnis, er hat auch die Mitgefangenen einfach gefragt: An wen erinnerst du dich, wer hat dich geschlagen, wer hat dich gefoltert, kannst du Namen sagen, weißt du irgendwas über ihn? Er hat diese Aufgabe eigentlich mit sich aus dem Holocaust gebracht und hat es niemals aufgegeben. 60 Jahre lang hat er sich dann beschäftigt mit der Bemühung, NS-Verbrecher vor Gericht zu stellen.

Winfried Sträter: Können Sie sich erklären, woher er die Kraft genommen hat, mit dieser unglaublichen Energie diese Verfolgung auf sich zu nehmen und sozusagen das zu seinem Lebensthema zu machen?

Segev: Also es waren sehr viele Holocaustüberlebende, die nach Rache strebten. Und er war gegen Racheakte. Er glaubte eben an Recht und Gericht und lässt die Leute vor Gericht kommen. Als ich dann etwas tiefer in sein Leben eingestiegen bin, hab ich gedacht, dass er von einem sehr tiefen Schuldgefühl gelitten hat, ...

Sträter: ... überlebt zu haben ...

Segev: ... weil er überlebt hat – wie sehr viele Holocaustüberlebende übrigens –, weil er weniger gelitten hat als andere, weil er eigentlich gerettet wurde durch die Anständigkeit von zwei anständigen Deutschen, die ihm geholfen haben. Und er hatte wahrscheinlich das Gefühl, dass er irgendetwas den Opfern schuldet. Er war schon von Jugend an sehr konservativ in seiner politischen Einstellung und hatte deshalb sich als Feinde gemacht die sozialdemokratischen Regierungen in Österreich und in Deutschland.

Und es war auch so, dass sogar ausländische Geheimdienste gar nicht interessiert waren an solchen Prozessen. Zum Beispiel die CIA, also die Amerikaner wollten ja Westdeutschland als Verbündete gewinnen ...

Sträter: ... im Kalten Krieg ...

Segev: ... im Kalten Krieg, und haben den Deutschen gesagt, okay, dann macht eben keine Prozesse. Aber dem Wiesenthal ist es auch manchmal passiert, dass er zur CIA gegangen ist und gesagt, ich weiß, wo dieser oder jener Verbrecher ist, und die haben ihm dann gesagt, danke schön, der arbeitet schon für uns, suchen Sie einen anderen!

Sträter: Nun könnte man ja sagen, es gab eine Kraft in der Welt, die müsste ihn von Anfang an bedingungslos unterstützt haben, das war der werdende und ab 1948 existierende Staat Israel. Aber ganz so unproblematisch war auch vom Anfang her die Beziehung zwischen Wiesenthal und Israel ja keineswegs?

Segev: Ja, das stimmt. Erstens mal gehörte Wiesenthal zu denjenigen Holocaustüberlebenden, die großen Vorwurf der zionistischen Bewegung gemacht haben, weil sie während des Krieges nicht alles das getan hat, was Leute wie Wiesenthal dachten, das die zionistische Bewegung hätte tun müssen, um die Juden vorm Holocaust zu retten. In Wirklichkeit war die zionistische Bewegung sehr schwach. Er war sehr böse, wenn er zum Beispiel Zeitungen gelesen hat, die in Palästina erschienen sind während des Holocausts, und die ein normales Leben reflektieren mit Kino, Konzerten und Partys und so, während er im KZ saß.

Und die Hauptsache war aber, dass Israel ein sehr zukunftsorientiertes Land war und sich eigentlich gar nicht interessiert hat für alte Nazis. Also die waren nicht auf hoher Priorität. Interessanterweise Neonazi-Organisationen in Europa waren ja hohe Priorität, weil die eine wirkliche Gefahr waren für jüdische Gemeinden in Europa und jüdische Institutionen, Schulen und so. Aber alte Nazis haben Israel damals nicht so sehr interessiert, und Wiesenthal hat auch in Israel nur sehr wenig – am Anfang – nur sehr wenig Unterstützung gefunden.

Und das andere Interessante ist, was ich auch eigentlich nicht wusste und was mich sehr erstaunt hatte, war, dass der Wiesenthal sehr eng – Anfang der 60er-Jahre –sehr eng mit dem israelischen Mossad zusammengearbeitet hat. Also das hab ich so erfahren, dass ich unter seinen Papieren eine Korrespondenz gesehen habe auf Deutsch mit irgendwem in Israel, den ich nicht ... Ich wusste nicht, wer ist das eigentlich, wieso hat er da einen Freund in Israel, mit dem er korrespondiert? Aber irgendwo war ein Name und eine Telefonnummer, dann habe ich den Mann angerufen, und hab ich ihn lange schweigen gehört am anderen Ende, und dann hat er gesagt: Na ja, ich dachte schon, irgendwann kommt mal ein Historiker und fragt mich danach. Und also dann hat er noch ein paar Tage gezögert und, ich glaube, er hat um Erlaubnis gebeten vom Mossad, und dann hat er mir das schließlich gesagt: Ja, ich war Vertreter des Mossads in Wien und ich hab den Wiesenthal beschäftigt.

Sträter: Ist das für einen israelischen Historiker wie Sie eine unangenehme Entdeckung?

Segev: Nein, im Gegenteil. Es ist eine sehr angenehme Entdeckung, dass der Mossad sich dafür interessiert hat und einem Mann geholfen, der die Nazis vor Gericht bringen wollte. Im Gegenteil, ich glaube, dass das eine sehr positive und für mich als Israeli bestimmt sehr angenehm ... In Österreich sagt man jetzt, er war Agent, er war Spion, er war ... Aber sie sollen froh und dankbar sein, dass sowohl sie einen Wiesenthal hatten, als dass der Wiesenthal es fertiggebracht hat, den Mossad für sich zu gewinnen. Also es war eigentlich so, nicht dass der Wiesenthal beim Mossad gearbeitet hat, sondern der Mossad beim Wiesenthal.

Sträter: Hat er sich Gedanken gemacht über die Existenzbedingungen Israels?

Segev: Er hat sich wohl Gedanken gemacht, aber er hat niemals irgendwie sich kritisch geäußert. Also der Wiesenthal war ein Mann, der eine sehr breite humanistische Auffassung des Holocausts hatte, er hat sich eingesetzt für unterdrückte Völker überall in der Welt, außer für die Palästinenser. Also er war völlig unkritisch in allem, was Israel anging. Er ist ja niemals Israeli geworden, er ist immer in Österreich geblieben – was übrigens für mich sehr schwer zu verstehen war –, und es gibt diese Erscheinung, dass Zionisten, die nicht in Israel leben, sehr nationalistisch sind, und das war der Wiesenthal, einer von denen.

Sträter: Weil er ja im Prinzip einen menschenrechtlichen Ansatz hatte, der weit über das hinausging, was gewissermaßen sein Lebensthema war, Verfolgung ...

Segev: Das ist sehr wahr. Also er hat sich, gerade in diesem Punkt hatte er schon Meinungsverschiedenheiten mit der offiziellen israelischen Erinnerungspolitik und mit der offiziellen Erinnerungspolitik in Amerika, indem er eine sehr breite Auffassung hatte, eine humanistische Auffassung. Er dachte, der Holocaust ist ein Verbrechen gegen die Menschheit bevor ein Verbrechen gegen das jüdische Volk, und er hat Judenvernichtungen mit anderen Völkermorderscheinungen verglichen. Und darüber war man ihm auch sehr böse.

Er hat sich sehr interessiert für andere Gruppen, die die Nazis verfolgt hatten, zum Beispiel die Sinti und Roma, war er ein großer Freund für die Sinti und Roma, hat sich sehr eingesetzt für sie. Aber auch seine Auffassung, warum Prozesse gegen NS-Verbrechen wichtig sind, hatte damit zu tun.

Also man könnte ihn zum Beispiel gefragt haben, was wollen Sie eigentlich heute noch mit dem 90-jährigen Demjanjuk, der da in München auf der Bahre liegt im Gerichtssaal, und er hätte darüber gesagt, dass jeder junge Mensch irgendwo auf der Welt, der eine Uniform trägt, wissen muss, dass es bestimmte Befehle gibt, die er nicht ausführen darf. Und Kriegsverbrechen und Völkermord sind ja leider nicht beendet mit dem Zweiten Weltkrieg, und genau deshalb sind diese Prozesse heute noch wertvoll.

Bürger: Der israelische Historiker Tom Segev über seine Simon-Wiesenthal-Biografie, die jetzt im Siedler Verlag erschienen ist. Das vollständige Gespräch, das meine Kollegen Winfried Sträter und René Aguigah mit Tom Segev geführt haben, das können Sie im November hören hier im Deutschlandradio Kultur in unserer Reihe "Zeitreisen".
Mehr zum Thema