Das Verschwinden der Gerechtigkeit

Von Esther Saoub · 21.12.2010
Zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung zählen sich zu den christlichen Kopten. Jahrhundertelang haben sie Kultur, Gesellschaft und Politik maßgeblich beeinflusst. Doch heute fühlen sich die Kopten mehr und mehr ausgestoßen und angegriffen.
Nagaa Hamadi ist eine beschauliche Kleinstadt am Westufer des Nils, 80 Kilometer nördlich von Luxor. Die meisten der 30.000 Einwohner sind Bauern, sie leben überwiegend vom Zuckerrohranbau. Wie in vielen oberägyptischen Städten wohnen hier Christen und Muslime Tür an Tür. Doch seit dem letzten Weihnachtsfest ist in Nagaa Hammadi nichts mehr wie es war:

Josef: "Der Gottesdienst war um halb elf abends zuende. Wir sind dann noch eine Stunde draußen geblieben, wir waren ungefähr 20 Jungs. Plötzlich kam ein Auto mit drei Männern drin. Sie haben auf uns geschossen. Ich dachte erst, das sind Feuerwerksraketen oder sowas. Mich haben vier Kugeln getroffen: eine in den Arm, eine in den Bauch, zwei in die Seite. Erst habe ich gar nichts nichts gefühlt, ich bin einfach losgerannt."

Sechs junge Christen kamen damals ums Leben, zwei davon waren Josefs beste Freunde. Er selbst hat Monate gebraucht, bis er sich wieder erholt hat: körperlich jedenfalls. Doch seine Seele ist nach wie vor schwer verletzt:

"Ich spüre den Fanatismus. Wir haben ja muslimische Nachbarn, sie besuchen mich, lachen mit mir, aber im Herzen haben sie was gegen mich."

Josef sieht müde aus, er ist leicht übergewichtig, wahrscheinlich von der langen bewegungslosen Zeit im Krankenhaus. Wir sitzen im Wohnzimmer der Familie, einem winzigen Raum, an den Wänden hängen Heiligenbilder, darunter stehen verschnörkelte Sofas und Sessel, auf kleinen Tischen in der Mitte liegen Häkeldeckchen. Alles suggeriert eine heile Welt, die längst zerbrochen ist. Josef umgibt eine tiefe Traurigkeit. Immer wieder stellt er dieselbe Frage: warum?

"Was habe ich gemacht in meinem Leben? Was haben meine Freunde getan, dass sie sterben mussten? Alle reden von Toleranz und Versöhnung, aber ich glaube sowas wieder passieren, und schlimmer. Solange es keine Gesetze gibt, wird es nicht besser werden. Gott ist da, er verlässt keinen, das ist alles, was wir sagen können."

Die drei Täter von damals, stadtbekannte Unruhestifter, waren schnell identifiziert und festgenommen. Doch der Prozess wird seit Monaten immer wieder verschoben – Nagaa Hammadi bleibt gelähmt in Erwartung dessen, was das Gericht irgendwann entscheiden wird.

An jeder Straßenecke hier stehen Polizisten, sie sollen für Sicherheit sorgen, verbreiten aber eher eine lähmende Angst. Aus dem Verbrechen dreier Jugendlicher sind zwei Fronten geworden: hier die Christen, dort die Muslime. Nach offizieller Aussage des Staatsanwaltes wurden die sechs jungen Männer umgebracht, weil sie Christen waren. Denn im Nachbardorf wird ein Christ verdächtigt, ein muslimisches Mädchen vergewaltigt zu haben. Das uralte Stammesrecht der Blutrache wird plötzlich ausgeweitet auf eine ganze Glaubensgemeinschaft. Und die reagiert mit Rückzug, in ganz Ägypten bleiben die Christen immer öfter unter sich.

Als Fehler bezeichnet dies Kamal Zakher. Er hat innerhalb der koptischen Kirche eine säkularistische Bewegung gegründet. Religion und ziviles Leben sollten im ganzen Land wieder schärfer getrennt werden, findet er:

"Man sollte einen Strafprozess nicht mit politischen Augen sehen. Ein Verbrechen ist ein Verbrechen. Aber wenn ich versuche, es aus politischem Blickwinkel zu betrachten, kommt sofort das Gleichgewicht ins Spiel: Wen muss ich zufriedenstellen und wen kann ich verärgern? Natürlich werde ich die Mehrheit zufriedenstellen, denn die Minderheit ist ohnehin die ganze Zeit benachteiligt. Sie wird dann mit Sätzen abgespeist wie 'verzeiht uns, ihr seid unsere Brüder und wir lieben euch' und fertig. So entsteht die Unzufriedenheit unter den Kopten. Der Staat ist verschwunden und mit ihm die grundlegende Achse der Gerechtigkeit."

Als Datum für dieses Verschwinden der Gerechtigkeit nennt Zakher das Jahr 1971, als Präsident Sadat das Amt von seinem verstorbenen Vorgänger Nasser übernahm. Sadat rief für die Festigung seiner Macht Geister herbei, die ihm zehn Jahre später selbst zum Verhängnis wurden: die Islamisten. Mit deren Aufstieg wurden die Kopten, immerhin gut zehn Prozent der Bevölkerung, Schritt für Schritt aus dem öffentlichen Leben verdrängt und zogen sich in ihre eigenen Kreise zurück. Die Kirche witterte die Chance und lockte sie mit Angeboten wie Sportvereinen, Bildungseinrichtungen oder Freizeitgruppen. Die Bevölkerung bestand plötzlich nicht mehr aus Ägyptern, sondern aus Christen und Muslimen. Kamal Zakher:

"Wenn ein Moslem einen Christen bestohlen hat oder ein Christ eine muslimische Frau belästigt, nimmt die Polizei zwar das Protokoll auf, aber dann schickt man sie zum Geheimdienst. Warum? Weil ein Moslem und ein Christ beteiligt sind. Diese Vermischung von Religion und Politik hat bei den Kopten in Oberägypten das Gefühl ausgelöst, dass sie keine richtigen Bürger sind, sondern Bürger zweiter Klasse. So werden sie behandelt, bei der Polizei, vor Gericht, im Beruf oder im politischen Leben."

In letzter Zeit häufen sich Übergriffe auf Christen in Ägypten. Die Menschenrechtsorganisation "Initiative für Persönlichkeitsrechte" zählte 58 solcher Verbrechen allein in den letzten zwei Jahren. Die meisten davon in Oberägypten. Hier trennt sich die Gesellschaft noch stärker als anderswo. An der Universität der Provinzhauptstadt Sohag sitzen in der eine Ecke die Christen, in der anderen die Muslime. Nevine el-Naggar ist Anfang 20 und hat hier Theaterwissenschaft und Schauspiel studiert. Sie engagiert sich für Menschenrechte und versucht der Isolation wieder zu entkommen, in die die Christen während der letzten Jahrzehnte gerutscht sind:

"Ich bin nicht dafür, dass sich alle Aktivitäten in der Kirche abspielen. Meine Freunde und ich dachten lange, es sei angenehmer und sicherer für uns, innerhalb der Kirche. Aber seit ich draußen war, denke ich: warum nicht? Ich kann doch von der Welt draußen lernen. Wir können nicht unser Leben lang die Tür verschlossen halten, nur weil draußen die Möglichkeit besteht, dass was falsch läuft. Wir müssen unsere Kreise verlassen und uns mit der wirklichen Gesellschaft draußen mischen."

Nevine el Naggar hat wie Kamal Zakher die Hoffnung auf Veränderung nicht aufgegeben. Doch viele andere resignieren wählen die Flucht. In allen arabischen Staaten nimmt die christliche Bevölkerung kontinuierlich ab. Wer sich im eigenen Land nicht mehr willkommen fühlt, dem fällt der Abschied leicht. 70 Millionen Ägypter sind sunnitische Muslime, und die meisten von ihnen nehmen schweigend in Kauf, dass Kopten auswandern oder sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Denn umgekehrt besinnen sich auch die Muslime immer mehr auf ihre Glaubensinhalte. Beide Religionsgemeinschaften werden von Konservativen dominiert. Auf der Strecke bleibt die Zivilgesellschaft: in der es bis vor 40 Jahren keine Rolle spielte, wer Christ ist und wer Moslem.