"Das Steuerrecht eignet sich genauso wenig wie das Strafrecht zum Deal“

Rudolf Mellinghof im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 24.02.2012
Deutschlands oberster Steuerrichter Rudolf Mellinghoff sagte, er habe "große Probleme" damit, dass das kürzlich vom Bundestag beschlossene Mediationsgesetz auch Steuersachen betreffe. Das Konzept habe mit Gerechtigkeit wenig zu tun.
Jan-Christoph Kitzler: Das deutsche Steuerrecht ist ein Dschungel, undurchdringbar auch für viele Experten. Es gibt so viele Einzelregelungen, Ausnahmen und Besonderheiten, dass es auch ebenso viel Streit gibt um die richtige Veranlagung von Steuerzahlern und um die richtige Auslegung des Rechts. Die Gerichte, die sich damit beschäftigen, könnten schon bald entlastet werden, denn der Bundestag hat das sogenannte Mediationsgesetz beschlossen, das mehr Einigung außerhalb der Gerichtssäle ermöglichen soll. Darüber habe ich gestern mit dem obersten deutschen Finanzrichter gesprochen, mit Rudolf Mellinghoff, dem Präsidenten des Bundesfinanzhofs in München, und zuerst habe ich ihn gefragt, ob er Mediation in Steuerverfahren für eine gute Idee hält.

Rudolf Mellinghoff: Also damit habe ich große Probleme, man muss dazu allerdings sagen, dass das Bundeskabinett und die Bundesministerin der Justiz ausdrücklich die Finanzgerichtsbarkeit nicht vorgesehen haben im Mediationsgesetz, sondern das ist im Bundestag in das Gesetz hineingekommen. Ich nehme mal an, dass das ein Versehen ist, weil man alle Gerichtsbarkeiten gleich behandeln will. Aber das Steuerrecht eignet sich genauso wenig wie das Strafrecht zum Deal, das heißt, zum einvernehmlichen Aushandeln ohne Gesetzesbindung. Das verträgt sich nicht mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung.

Kitzler: Das heißt, die Steuergerechtigkeit ist in Gefahr, wenn die Steuerhöhe ausgehandelt werden kann?

Mellinghoff: Also Sie müssen sich vorstellen, wenn ein Steuerabteilungsleiter eines großen deutschen Unternehmens mit einem Finanzamtsvorsteher vor den Güterichter tritt und ohne Gesetzesbindung einvernehmlich die Steuerschuld aushandelt, daran sieht man sehr deutlich, dass dieses Konzept mit der Gerechtigkeit im Steuerrecht nicht viel zu tun hat.

Kitzler: Ganz beschlossen ist die Sachen noch nicht. der Vermittlungsausschuss ist jetzt angerufen - Sie hoffen, dass dieser Aspekt dann scheitert, sozusagen. Wäre es aber nicht trotzdem gut, wenn die Finanzgerichte in Deutschland entlastet würden durch solche Verfahren?

Mellinghoff: Also die Finanzgerichte sind momentan nicht überlastet, die Verfahrensdauern sind zügig, die Gerichte entscheiden schnell, von daher sehe ich momentan dort keine Probleme.

Kitzler: Das deutsche Steuersystem gilt als so komplex, dass selbst Fachleute manchmal nicht durchblicken, dass es schwer ist, Gesetze zu machen, die noch in die Systematik passen - haben Sie den Eindruck, dass alle Beteiligten dann auch den Durchblick haben?

Mellinghoff: Also wenn Sie alleine sehen, dass der Bundesrechnungshof die desolate Lage des Steuerrecht explizit 2006 und auch dieses Jahr wieder gerügt hat, festgestellt hat, dass die Arbeitnehmerveranlagung fast zur Hälfte fehlerhaft ist, wenn Sie sehen, dass der Landesrechnungshof im Mecklenburg-Vorpommern bei den Veräußerungseinkünften 90 Prozent Fehlerquote festgestellt hat, dann sehen Sie, in welchem Zustand unser geltendes Recht ist.

Kitzler: Das heißt, unser Steuerrecht - um es auf den Punkt zu bringen - sorgt nicht für Steuergerechtigkeit, so wie es läuft grade?

Mellinghoff: Der Gesetzgeber bemüht sich natürlich, Steuergerechtigkeit herzustellen, und er hat ein großes Problem, natürlich auch mit der Europäischen Union, weil dort immer wieder neue Anforderungen herankommen, aber das geltende Recht ist so kompliziert und so komplex, dass man wirklich deutlich vereinfachen muss.

Kitzler: Es sind ja auch die beteiligten Finanzämter unter großem Druck, Überprüfungen sind oft gar nicht mehr leistbar, weil es eben so komplex ist, weil es viele Unsicherheiten gibt. Ist es in Deutschland vom Zufall abhängig, ob jemand gerecht steuerlich veranlagt wird oder nicht?

Mellinghoff: Ich würde nicht so weit gehen, dass es Willkür und Zufall ist, sondern die Finanzämter sind schon bemüht, das gleichmäßig zu vollziehen. Das Problem ist nur, das Steuerrecht ist zu kompliziert, und die Finanzämter sind überfordert.

Kitzler: Wie äußert sich das dann?

Mellinghoff: Das äußert sich eben in einer sehr hohen Fehlerquote einmal der Steuerbescheide zum einen, und zum Zweiten, dass die Finanzämter einfach aufgrund der Arbeitsüberlastung dazu übergehen müssen, nach Erklärung zu veranlagen, also nicht mehr hinreichend gründlich zu prüfen.

Kitzler: Unsere Regierung, die wir jetzt haben, war ja angetreten mit dem Vorsatz, das Steuerrecht zu vereinfachen. Sehen Sie da Fortschritte?

Mellinghoff: Das ist eine schwierige Frage. Sie bemüht sich, aber ich denke, es sind noch sehr viel größere Schritte möglich und notwendig.

Kitzler: Ihr Kollege Paul Kirchhoff, mit dem Sie einen wichtigen Kommentar zum Einkommensteuerrecht herausgeben, hat ziemlich klare Vorstellungen davon, wie man das Steuerrecht radikal vereinfachen könnte. Haben Sie die auch, oder müssen Sie sich da als oberster Finanzrichter eher zurückhalten?

Mellinghoff: Also ich bin natürlich kein Steuerpolitiker. Ich habe in bestimmten Bereichen schon Vorstellungen: Ich denke, man sollte zunächst vom geltenden Recht ausgehen und sollte sehr viel mehr von Pauschalierung und Typisierung Gebrauch machen, um das geltende Recht handhabbarer zu machen und vor allen Dingen diese ganzen zusätzlichen Vorschriften, die im Laufe der Jahre hinzugekommen sind, überprüfen, auf welche man da verzichten kann.

Kitzler: Das heißt, die vielen Ausnahmen reduzieren?

Mellinghoff: Es gibt viel zu viele Ausnahmen und viel zu viele Sonderregelungen.

Kitzler: Ist das nicht aber auch ein Grund dafür, dass eine Reform so schwierig ist, weil ja eine Regierung, die die angehen will, erst mal ganz viele Inhaber von Sonderinteressen verbrämen müsste?

Mellinghoff: Also ich würde mal sagen, eine Steuerreform ist nicht sexy und bringt sicherlich für keinen der Politiker einen großen Gewinn an Popularität, aber es ist notwendig, sich der Sache anzunehmen.

Kitzler: Von Steuerreformen, die das System vereinfachen, war ja schon viel die Rede, aber geworden ist daraus bisher noch nicht besonders viel. Liegt das auch daran, dass das System inzwischen so komplex ist, dass es eigentlich gar nicht mehr reformierbar ist?

Mellinghoff: Das würde ich nicht sagen. Man muss sehen, dass die Steuerkonzepte, die auf den Tisch gelegt worden sind, von Wissenschaftlern sehr ambitionierte und durchdachte Systeme sind, wir aber natürlich ein geltendes Recht haben, das behutsam überführt werden muss in ein einfacheres und systematischeres Recht. Und so etwas kann man nur machen, wenn man behutsam vorgeht von dem geltenden Rechtszustand, und nicht alles von heute auf morgen umkrempelt.

Kitzler: Ist das wirklich der richtige Weg, behutsame Reformen, oder braucht man nicht eigentlich eher jemanden, der den Gordischen Knoten durchschlägt - ich will jetzt nicht vom Bierdeckel reden -, aber der eine radikale Vereinfachung durchsetzt?

Mellinghoff: Das Ziel muss eine radikale Vereinfachung sein, der Weg dahin ist steinig und schwer. Sie müssen ja immerhin sehen, das sind große Besitzstände, es sind auch Steuerplanungen auf dem geltenden Recht aufgebaut, die kann man nicht von einem Tag auf den anderen Tag völlig über den Haufen werfen.

Kitzler: Wird auch vielleicht zu wenig gerade zurzeit in diesem Bereich reformiert, weil der Staat jetzt gerade auf Sparkurs ist, weil versucht wird, die Einnahmen-Seite zu konsolidieren?

Mellinghoff: Natürlich ist es so, dass die gegenwärtige Bundesregierung nicht das Steuerrecht im Mittelpunkt der Tätigkeit sieht, weil die Anforderungen, die durch die Eurokrise vorhanden sind, eben so gewaltig sind, dass sie wohl keine Zeit hat, sich dem hinreichend anzunehmen.

Kitzler: Professor Rudolf Mellinghoff, der Präsident des Bundesfinanzhofs, das Gespräch haben wir gestern aufgezeichnet.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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