Das Schweigen deutscher Intellektueller

Manfred Flügge im Gespräch mit Frank Meyer · 26.02.2009
Erwin Strittmatter, Günter Grass, Walter Jens und andere. - Viele deutsche Intellektuelle haben über ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus geschwiegen. Aus Sicht des Schriftstellers Manfred Flügge haben diese Geistesgrößen viel für die demokratische Kultur Deutschlands getan, an der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte aber sind sie gescheitert.
Frank Meyer: Erst gestern gab es in Potsdam ein sehr gut besuchtes Podiumsgespräch über den Fall Strittmatter. Im vergangenen Jahr ist bekannt geworden, dass der in der DDR überaus angesehene Schriftsteller Erwin Strittmatter Mitglied in einem Polizeiregiment war, das am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg beteiligt war. Warum hat Strittmatter nie über sein Verhalten in dieser Zeit gesprochen oder geschrieben? Darüber wird diskutiert, seit der Fall Strittmatter bekannt wurde. Ähnliche Debatten kennen wir auch im Fall von Günter Grass, Walter Jens und anderen oft sehr prägenden linken oder linksliberalen Intellektuellen. Manfred Flügge hat sich gefragt, woher dieses Schweigen der Intellektuellen kommt. Manfred Flügge ist Jahrgang 1946, er ist Schriftsteller und Publizist, zuletzt hat er eine Marta-Feuchtwanger-Biografie veröffentlicht. Manfred Flügge, warum treibt sie diese Frage um nach dem Schweigen dieser Intellektuellen, was bewegt Sie daran?

Manfred Flügge: Wenn ich das Wort ergreife, schriftlich oder mündlich, dann tue ich es nach dem Vorbild eben dieser Person, um die es geht. Die Redner und Kritiker der Republik, die Wortführer, die die Maßstäbe, den Stil der intellektuellen Debatten geprägt haben, die die entscheidenden literarischen Werke vorgelegt haben. Ich tue es nach diesem Vorbild, aber ich verhalte mich kritisch dazu, obwohl in der Bibel steht, "du sollst die Blöße deiner Väter nicht offenlegen". Leider sind wir dazu gezwungen, diese Debatten zu führen, um des Klimas und der Klarheit in dieser Republik Willen und um der Klarheit in der deutschen Geschichte Willen. Es geht um Zusammenhänge deutscher Geschichte. Und da muss man intervenieren. Zu meinen Erfahrungen seit meinem Studium gehört es, dass man immer wieder Dinge aufdeckt, die die Generationen, ein, zwei Generationen davor betreffen, und die Unfähigkeit – das ist mein Hauptpunkt –, sich dieser Frage zu stellen. Es gibt Leute, die große Verdienste haben um die Freiheit, um die Liberalität, um die Kritikfähigkeit, um die Streitkultur, um die Gedächtniskultur dieser Republik, aber sie sind unfähig, über ihre eigene Geschichte in zureichender Weise zu reden, und deswegen kommen ab und zu mal Skandale hoch.

Meyer: Dann lassen Sie uns genauer anschauen, über welche Leute wir da eigentlich reden. Wir kennen nun einige jüngere Fälle von Koryphäen, muss man sagen, der bundesrepublikanischen Geschichte und des Geisteslebens in diesem Land, wenn man jetzt an Walter Jens, an Günter Grass denkt, aber kann man generell sagen, dass diese Generation von linken oder linksliberalen bundesdeutschen Intellektuellen geschwiegen hat über ihre Zeit in der Nazizeit?

Flügge: Offensichtlich. Der letzte Fall, der hochkam und der mir persönlich naheging, war Hans Werner Henze, einen Komponisten, den ich äußerst liebe und schätze und immer gern gehört habe …

Meyer: Wobei noch nicht belegt ist, ob er NSDAP-Mitglied war.

Flügge: Aber ich möchte eigentlich weiter ausholen. Die Fälle, die mich geprägt haben, liegen viel weiter zurück, aber sie haben dasselbe Muster. Der erste Politiker, den ich erlebt habe und für den ich mich begeistert habe, war Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes, ein hoch gebildeter Jurist, Völkerrechtler, ein Literat, es wird immer auf seine französische Mutter verwiesen, auf seine Baudelaire-Übersetzung. Als ich dann zwei Jahre in Nordfrankreich verbracht habe, in Lille, und diesen Politiker als ein Beispiel für einen guten Deutschen genannt habe, waren die Leute entsetzt und schwiegen. Carlo Schmid, den Namen kannten sie. Der hatte auf den roten Plakaten gestanden, mit denen die deutsche Besatzung die Geiselerschießung bekannt gegeben hat. Carlo Schmid hatte eine Funktion im Militärstab des besetzten Nordfrankreich, das von Brüssel aus verwaltet wurde. Und ich hatte ihn persönlich als Gymnasiast als einen hervorragenden Redner erlebt. Das war der erste Schock. Ein späterer Schock betraf eine Person wie Werner Höfer, der übrigens mit Walter Jens auch sehr, fast befreundet war, wie man jetzt aus dem Buch von Tilman Jens sieht. Werner Höfer durch seinen "internationalen Frühschoppen" auch mich geprägt als Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Kaum jemand hat so viel für die Liberalität der alten Bundesrepublik getan wie er mit dieser Sendung. Er hat die Emigranten zurückgebracht – Alfred Grosser, Joseph Rovan und viele andere, Sebastian Haffner, sind dem Publikum in Deutschland durch diese Sendung bekannt geworden. Er hat Leute aus ganz Europa zusammengebracht, auch von der anderen Seite, aus Russland usw., wunderbar. Also eine Diskussionskultur ohnegleichen. Und dann, pladderaklatsch, auf einmal taucht auf, er hat als junger Karrierejournalist schlimme Artikel geschrieben über Karlrobert Kreiten, der wegen eines defitistischen Witzes hingerichtet wurde, usw. Und was geschah dann? Nichts geschah. Er taucht ab, gibt beleidigte Äußerungen von sich. Es gibt keine Auseinandersetzung, und das ist eine verpasste Chance. Es geht gar nicht um die Schuldfrage, sondern um die Frage, was ist mit diesen Leuten los gewesen, wann, wie und warum haben sie sich geändert, und warum können sie nicht dazu Stellung nehmen?

Meyer: Was Sie uns jetzt von Herrn Höfer sagen, ist das für Sie das Muster, beleidigt abtauchen und der Auseinandersetzung aus dem Weg gehen?

Flügge: Das ist das Muster, und es wird begleitet von einem Affektschub. Wenn man sieht, wie in Ost und West aus unterschiedlichen Motiven, aber doch in vergleichbarer Weise nur affektiv reagiert wird, nur beleidigt, als sei es ein Verbot, danach zu fragen. Aber das Ergebnis der deutschen Geschichte seit 45 ist, diese Dinge gehören auf den Tisch. Es muss offen und klar diskutiert werden, es wird nichts verklärt, es gibt keine Legenden, keine Heldenlegenden, es muss alles diskutiert werden. Und es geht wirklich nicht um die Schuldfrage, es geht auch nicht darum, das Verdienst Einzelner infrage zu stellen. Aber es geht um Zusammenhänge und auch um die Grundlagen dieser Kritik und für mich dann auch um die Unfähigkeit, nach 1989 positive Entwürfe für Deutschland zu machen. Und das ist das große Versäumnis der Intellektuellen, mit 1989 waren sie dann überfordert.

Meyer: Aber wenn wir da erst mal in der Zeit bleiben und vielleicht nach der Relativität fragen, wenn man sich das Umfeld dieser Generation in der Bundesrepublik anschaut, die hatten ja tatsächlich mit echten Altnazis zu tun, an den Spitzen der Wirtschaft, der Justiz und eben auch der Politik, also wenn man Hans Globke denkt oder Hans Filbinger oder Friedrich Flick. Konnte man vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehen, dass jemand wie Günter Grass, der als Jugendlicher zur Waffen-SS gegangen ist, sagt, meine eigene Verstrickung ist da vergleichsweise das geringe Übel?

Flügge: Das hat er ja nicht gesagt. Wenn er das gesagt hätte, wenn er seine Position so begründet hätte, dann wäre es ja okay gewesen. Das hat er aber nicht getan. Also wenn wir ein bisschen zurückblicken, nach 1945 oder von mir aus nach 1949, war der Platz der Kritik frei, weil die kritische Intelligenz der Weimarer Zeit vertrieben war, ermordet war und kaum zurückgekommen ist und auch nicht einen prägenden Einfluss auf die Debatten gehabt hat. Das haben diese Generationen Grass, Walser und andere dann übernommen. Der Platz der Kritik war frei. Und der wurde besetzt von Leuten, am Anfang Erich Kästner, Andersch und Ähnlichen, die zwar keine Anhänger des Regimes waren, aber doch eher Opportunisten waren und nicht gerade als Widerständler aufgefallen sind. Ich könnte auch Gottfried Benn nennen, von dem es dann nach dem Krieg ziemlich schlimme Äußerungen gibt, sein Unwillen, sich überhaupt auseinanderzusetzen mit seiner Position. 33/34 hat er nun für die Nazis geschwärmt, das ist leider belegt, ist dann aber schnell davon zurückgekommen. Also der Platz der Kritik war frei. Und dieser Platz wurde eingenommen von dieser Generation Flakhelfer, junge Soldaten oder auch BDM-Führerinnen wie im Fall von Carola Stern usw. Selbst die kleine Christa Wolf – die schreibt das immerhin in "Kindheitsmuster" – war von diesem Regime begeistert. Was sollten sie auch anderes gewesen sein? Das werfe ich ihnen gar nicht vor. Aber worum es mir geht, ist, wann, wie und warum haben sie sich geändert und warum können sie sich diesem Prozess nicht stellen. Und darüber erfahre ich nichts. Zum Beispiel aus dem Buch von Günter Grass "Beim Häuten der Zwiebel", über seine Änderung sagt er nichts, gar nichts.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, der Schriftsteller Manfred Flügge ist bei uns. Wir reden über das Schweigen von Intellektuellen zu ihrer Nazivergangenheit, und ich möchte gerne mal auf die andere Seite schauen, die es ja auch gab, eine Ausnahme von diesem Beschweigen. Da finde ich den Autor Franz Fühmann ganz beeindruckend. Der hat sich ja in einem langen Text damit auseinandergesetzt in seinem Essay – "Vor Feuerschlünden" hieß der in der DDR, "Der Sturz des Engels" im Westen –, da erzählt er ja von genau dieser Wandlung vom überzeugten Nazi zum überzeugten Sozialisten und wie ihm auch diese Wandlung wieder abhanden kam. Und eigentlich ist er ja ein Beispiel dafür, dass man gerade, wenn man von seiner Verführbarkeit erzählt, gerade darüber moralisch Integrität gewinnt, oder?

Flügge: Sie haben recht. Fühmann ist die Ausnahme. Aber bei Fühmann geht es auch nicht gut aus, der ist daran kaputt gegangen mehr oder weniger. Man hat mir erzählt, dass er am Ende seines Lebens – das ist eine schrecklich wunderbare, symbolische Handlung – erst mal, um sich körperlich fit zu halten, ein tiefes Loch in seinen Garten gegraben hat, das irgendwie zehn Meter oder noch mehr tief war, also eine ungeheure Leistung, zu graben. Wahrscheinlich hätte er bis zum Mittelpunkt der Erde gegraben. Aber das kommt mir auch als symbolische Handlung vor. Er gräbt, er will Grundlagen finden, er will Gründe finden, und er findet keine. Das heißt, die Auseinandersetzung ist natürlich schwierig und es ist natürlich viel verlangt und es wird wahrscheinlich weh tun. Also wenn jemand wie Walter Jens, wie es wohl aussieht, am Anfang seines intellektuellen Lebens sich sehr scharf gegen Thomas Mann geäußert hat und sehr völkisch argumentiert hat und am Ende seines Lebens einen Bestseller über Thomas Mann schreibt und ihm viel verdankt, das ist doch eine kuriose Entwicklung. Gott sei Dank ist er diese Entwicklung gegangen. Also dass jemand dazulernt, ist ihm ja nicht vorzuwerfen. Aber wie glaubwürdig ist das, wenn er nicht dazu stehen kann? Es ändert nichts an seinen Verdiensten als Redner der Republik, als jemand, der wirklich auch zur Erinnerungskultur wesentlich beigetragen hat und auch die Ost- und Westakademie wunderbar integriert war, soweit das möglich war. Das ist ja alles unbenommen. Aber warum kann er nicht zu seiner Geschichte stehen, und wie sein Sohn erzählt, er hat mehrfach versucht, seine Autobiografie zu schreiben, aber das ist ihm nicht gelungen.

Meyer: Vielleicht bleiben wir noch bei einem anderen Fall, gerade weil er jetzt so aktuell ist, der Fall Erwin Strittmatter. Es gab ja – wir haben vorhin in dieser Sendung schon darüber gesprochen – gestern eine ausführliche Diskussion darüber in Potsdam, unter anderem mit dem Militärhistoriker Bernhard Kroener, der nun sagt über diesen Fall Strittmatter: Dieser Schriftsteller, Erwin Strittmatter, müsse sehr viel über den Vernichtungskrieg der Nazis gewusst haben. Und er hat eben darüber geschwiegen. Was sagen Sie zu diesem Fall?

Flügge: Man muss immer unterscheiden, was ist der Fall gewesen im Leben von Strittmatter und wie wird darüber diskutiert. Mich interessiert im Augenblick eher das zweite Thema. Das erste Thema ist ein historisches Thema, wo man sachlich, vorsichtig umgehen muss, aber es sieht so aus, als wäre diese Polizeieinheit, in der er war, darauf spezialisiert, Dörfer niederzubrennen, Frauen und Kinder hinzumetzeln, wie das die Nazis nun mal getan haben, also in schwerste Kriegsverbrechen verstrickt ist, ohne dass man im Augenblick sagen kann, er war an dem und dem Tag dabei – obwohl sehr viel dafür spricht. Und er hat auch gelogen, er war nicht nur Schreiber, und was heißt das überhaupt, bei so einer Einheit Schreiber zu sein. Aber das war es sehr viel später, als er das gesagt hat. Aber interessant ist, wie diskutiert wird. Da gibt es eine ähnliche Affektabwehr, aber anders begründet. Es wird nämlich der antifaschistische Mythos der DDR verteidigt. Und wie man sieht, hat die Aufarbeitung der deutschen Geschichte für die SED immer einen taktischen Stellenwert gehabt, es war Teil einer Propagandaschlacht. Es wurden Nazigruppen in Westdeutschland erfunden und inszeniert – nicht, dass es nicht wirkliche Nazis gegeben hätte, aber sie haben auch nachgeholfen. Sie haben bei SS-Aufmärschen und sonst was, Kameradschaftsbegräbnisse, mit inszeniert, auch für die ausländische Presse, natürlich um der Bundesrepublik zu schaden. Und diese Propagandaschlachten, die werden zum Teil noch fortgeführt, aber die muss man überwinden. Es geht nicht um die DDR, was immer man von ihr hält, es geht um deutsche Geschichte und deutsche Zusammenhänge. Und da ist auch für mich der Nutzen dieser Debatte, um zusammenzuführen, was nun endlich wieder zusammengehört, muss man auch diese schmerzlichen Debatten führen. Denn was haben wir gemeinsam wenn nicht die Geschichte, die leider keine immer ruhmreiche Geschichte war.

Meyer: Günter Grass, Walter Jens, Erwin Strittmatter und andere – warum haben linke und linksliberale Intellektuelle über ihre Vergangenheit im Nazi-Reich geschwiegen? Darüber habe ich mit dem Schriftsteller Manfred Flügge gesprochen. Herzlichen Dank!