Das schlaue Netz von Wildpoldsried

Von Dirk Asendorpf · 26.08.2012
Der Milchbauer schraubt neue Solarmodule aufs Dach, jeder Verein hat seinen Photovoltaik-Rentner: Das schwäbische Wildpoldsried ist eine Gemeinde voller Enthusiasten, die Einwohner erproben smarte Lösungen für die Energieversorgung der Zukunft. Doch taugt das Modell auch für größere Städte?
Wildpoldsried, eine 2500-Seelen-Gemeinde tief im Allgäu. Mitten im Dorf, ein paar Meter hinter dem Rathaus, hat Robert Köberle eine kleine Trafostation aufgeschlossen. Der Ingenieur leitet die Wartungsabteilung beim lokalen Stromversorger, den Allgäuer Überlandwerken. "Hochspannung, Lebensgefahr" warnt ein gelbes Schild an der Metalltür.

"Was wir da drin sehen, das sind mehrere Messinstrumente, Messequipments, auf der rechten Seite für die Wettermessstation. Dann haben wir mehrere hochauflösende Messgeräte drin, die letztendlich hier an diesem einzelnen Punkt des Netzes vermessen, den genauen Zustand für uns nachvollziehbar machen. Es ist ein bisschen eine Verkehrszählung im Netz, was wir da veranstalten, damit das in Zukunft kein Blindflug mehr ist, damit wir das Netz in seiner Gesamtheit einfach besser verstehen."

Bisher wurde unser Strom vor allem in Großkraftwerken erzeugt, die direkt ans Hochspannungsnetz angeschlossen sind. In Zukunft werden Hunderttausende Windräder und Solarmodule einen Großteil der Energie dezentral ins Mittel- und Niedrigspannungsnetz einspeisen. Doch das ist bisher gar nicht darauf ausgelegt, Überschüsse ans Hochspannungsnetz abzugeben. Deshalb ist es sinnvoll, erneuerbare Energie gleich dort zu verwenden, wo sie entsteht. Dafür muss schon das Niedrigspannungsnetz Erzeugung und Verbrauch möglichst gut in Einklang bringen. In Wildpoldsried funktioniert das gerade ausgezeichnet.

"Wir sind jetzt fast im Leerlauf. Null auf null, also es wird eingespeist und in dem Ortsnetz gleich entsprechend wieder verbraucht und das Saldo landet letztendlich hier an der Station. Sprich: Es passiert momentan hier an diesem Knotenpunkt nichts. Also dem Trafo ist auch langweilig, der ist bloß warm, weil's außen warm ist."

Der Himmel ist wolkenlos, da wird viel Solarstrom ins Ortsnetz eingespeist. Doch wie viel genau? Nicht nur der Sonnenschein spielt dafür eine Rolle, auch die Temperatur ist wichtig.

"Wenn heute viel kühleres Wetter wäre, wäre der Ertrag viel höher, weil die Module besser funktionieren. Also sprich: Wir messen nicht nur irgendwas, sondern wir wollen auch den Bezug herstellen: was für eine Temperatur, was für eine Einstrahlung, was kommt in der Realität raus, um auch gewisse Prognosen dort ins Netz zu setzen."

Und diese Prognosen dienen als Grundlage für die intelligente Steuerung – zum Beispiel mit dem Ortsnetztrafo. Der ist nämlich kein simpler Spannungswandler wie er tausendfach in deutschen Umspannstationen steht. Dieser Transformator ist regelbar. Kleine Motoren in seinem Inneren können das Übersetzungsverhältnis verändern und damit die Spannung auch dann bei genau 230 Volt halten, wenn mehr erneuerbare Energie ins Ortsnetz eingespeist wird, als die Dorfbewohner verbrauchen. Das kommt immer häufiger vor, denn in Wildpoldsried findet die Energiewende, die in ganz Deutschland gerade erst beginnt, schon lange statt. Bürgermeister Arno Zengerle, CSU, ist stolz darauf.

"Wir haben schon seit Anfang der 90er-Jahre einige Leute bei uns im Dorf, die sich mit dem Thema regenerative Energieerzeugung sehr intensiv befasst haben, hauptsächlich Landwirte über den Bereich Biogas, aber auch Wiederinbetriebnahme alter kleiner Wasserkraftanlagen. Und dann hat sich das weiterentwickelt mit dem Thema Wind, dann mit unserer Biomasseheizung, Photovoltaik. Da hat's bei uns immer schon großen Konsens darüber gegeben. Die Beschlüsse im Gemeinderat sind zum großen Teil einstimmig gefallen."

30 Millionen Euro haben die Wildpoldsrieder Bürger in erneuerbare Energie investiert. Unter dem Dorfsaal erzeugt ein Biomasse-Blockheizkraftwerk Strom und Heißwasser für das Nahwärmenetz, Photovoltaikmodule haben 200 Dächer in kleine Solarkraftwerke verwandelt, oben am Hang drehen sich die sieben Rotoren des Bürgerwindparks. Im vergangenen Jahr hat Wildpoldsried dreimal soviel Strom erzeugt wie verbraucht. Energie steht im Mittelpunkt des Dorflebens.

"Wir haben vier kommunale Dächer den vier größten Vereinen zur Verfügung gestellt, die intensiv Jugendarbeit betreiben, den Sportlern, den Schützen, der Feuerwehr und den Musikanten. Die haben die Anlagen selber aufgebaut und überwachen sie auch ständig. Jeder Verein hat seinen Photovoltaik-Rentner, der fast täglich nachschaut, ob alles in Ordnung ist. Und die Vereine profitieren natürlich durch den Ertrag. Und das Geld wird wieder in die Jugendarbeit investiert und ich muss sagen, da ist es sehr gut aufgehoben."

Tradition wird groß geschrieben im Allgäu, und inzwischen hat dort auch die Erzeugung großer Mengen erneuerbarer Energie schon Tradition. Doch kann eine ländliche Gemeinde voller Enthusiasten, in der vieles per Zuruf funktioniert, tatsächlich als Vorbild für das gesamte Stromnetz der Zukunft dienen?

Rudolf Martin Siegers ist überzeugt davon. Er leitet die deutsche Siemens-Niederlassung. Der Technikkonzern hat den regelbaren Ortsnetztrafo geliefert und entwickelt auch die Computersteuerung für das komplexe Zusammenspiel von Erzeugung und Verbrauch. Die Software wirft zum Beispiel die Blockheizkraftwerke genau dann an, wenn viel Strom benötigt wird oder stoppt sie, wenn das Netz überlastet ist.

"Es gibt Elemente, die wir in Wildpoldsried testen und erproben, die vom Grundsatz her auch für eine Stadt oder für ein Ballungszentrum gelten. Ein virtuelles Kraftwerk zu haben und Verbraucher intelligent zu steuern mit Energieerzeugung, das funktioniert in einer Großstadt später genauso wie in Wildpoldsried, wo wir das erproben und testen und deswegen hat Wildpoldsried hier auch eine Pionierarbeit zu leisten."

Seit 2011 führt Siemens zusammen mit den Allgäuer Überlandwerken, der Hochschule Kempten und der Technischen Hochschule in Aachen das Forschungsprojekt "Irene" durch. Das Kürzel steht für Integration regenerativer Energien und Elektromobilität. Tatsächlich übernehmen auch zwei Dutzend Elektroautos eine wichtige Funktion im intelligenten Ortsnetz von Wildpoldsried. Ihre Akkus dienen als Puffer. Geladen werden sie immer nur dann, wenn überschüssige Elektrizität im Netz zur Verfügung steht.

Einen der Elektroflitzer im Smart-Format steuert Hermann Reichart gerade von der Landstraße auf seinen Bauernhof. Wie gemalt liegt der Milchviehbetrieb zwischen saftiggrünen Weiden etwas außerhalb von Wildpoldsried.

"Also das isch a ganz tolle Sache. Am Anfang haben wir schon gedacht: Da müssen wir mal schauen, dass es immer wieder voll ist. Haben wir dann überhaupt keine Rücksicht mehr genommen. Wir haben das Fahrzeug einfach genommen, abends einfach wieder an die Steckdose und nächsten Morgen war es dann wieder voll. So, dann sind wir an meinem Hof angelangt."

Insgesamt verringert wird der Stromverbrauch dabei zwar nicht, doch für Hermann Reichart wird es trotzdem billiger. Denn für den Strom, den sein Auto zu den Zeiten tankt, an denen ein Überschuss im Netz vorhanden ist, zahlt er deutlich weniger. Und auch die Gemeinschaft profitiert. Das intelligente Stromnetz, Fachleute sprechen auch gerne von einem Smart Grid, senkt die Kosten der Energiewende beim Netzbetreiber, den Allgäuer Überlandwerken. Michael Fiedeldey leitet dort den Technik-Bereich.

"Bei jeder vierten, fünften Photovoltaikanlage, die bei uns ans Netz geht, fangen wir neu an und machen Netzverstärkung, sprich Transformatorenwechsel im Ortsnetz, wir reißen Straßen auf, tauschen Kupferkabel aus, verstärken diese. Durch den Einsatz dieser Smart-Grid-Komponenten wie hier in Wildpoldsried sind wir in der Lage, durch Einsatz intelligenter Mess- und Steuerungstechnik diese Kosten und die hohen Aufwendungen zu reduzieren."

Auf rund 20 Prozent kalkuliert Michael Fiedeldey die möglichen Einsparungen. Dagegen stehen allerdings die Kosten für das Smart Grid. Denn die dafür nötige Technik muss ja zunächst einmal angeschafft und dann auch in Schuss gehalten werden. Wartungschef Robert Köberle schlägt sich täglich damit herum. Die größten Sorgen macht ihm derzeit die drahtlose Übertragung der Messdaten an die Zentrale der Allgäuer Überlandwerke in Kempten. Drei Gigabyte kommen täglich zusammen, fünf CDs ließen sich damit füllen.

"Für diese gesamten Messungen, die wir jetzt aufgebaut haben und auch die Betreuung, die so ein System braucht, kann man grob einen halben Tag ansetzen für die Betreuung: Läuft alles? Ist alles richtig? Haben wir irgendwelche Aussetzer? Hat sich ein Modem in der Übertragung abgeschaltet? Wieso schaltet das nicht? Jeder kennt es vom Handy, das Ding reißt auch mal ab in der Verbindung, und wir brauchen halt momentan für das jetzige, noch prototypische System eine sehr sichere Verbindung. Das ist so der empfindlichste Ort momentan."

Schon im Wildpoldsrieder Miniaturmaßstab ist das intelligente Stromnetz erstaunlich komplex. Ein wichtiges Ziel des Irene-Projekts ist es deshalb zu klären, wie diese Datenflut bei der Übertragung auf ein größeres Netz sinnvoll eingedämmt werden kann.

Albert Moser leitet das Institut für Elektrische Anlagen und Energiewirtschaft an der Technischen Hochschule Aachen. Er warnt davor, das Potenzial schlauer Stromnetze zu überschätzen.

"Dieser Autarkie-Gedanke funktioniert in meinen Augen nur bei wirklich ausgewählten, ländlichen Standorten, die sich das – in Anführungszeichen – leisten können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Stadt autark werden könnte, eine Großstadt. Es sind keine Photovoltaikflächen da, es sind keine Windflächen da, es sind keine Biomasseflächen da. Es werden immer Verbrauchszentren sein und die Erneuerbaren werden immer außerhalb dieser Verbrauchszentren sein. Ich glaube, die Lösungen sind sinnvoll, ich glaube aber nicht, dass sie den Netzausbau ersetzen."

Zumindest in Wildpoldsried geht der Energiewende – wie der Blasmusik – bisher nicht die Puste aus. Fast alle Energieverbraucher sind gleichzeitig auch Erzeuger, aus Konsumenten, englisch consumer, sind sogenannte Prosumer geworden.

"Die anderen Leute haben sich ein bissel anstecken lassen auch."

Sagt Hermann Reichart. Er selber ist auf dem besten Weg, vom Milch- zum Energiebauern zu werden. Neben dem Elektroauto auf seinem Hof steht schon die nächste Solaranlage zur Montage bereit. Was noch fehlt, ist das Gebäude, das sie tragen soll.

"Für den neuen Stall hab ich schon eine Überdachung hergerichtet, hab die Module schon aufgebaut, dass ich sie dann auf den neuen Stall eben setzen kann."

Wartungstechniker Robert Köberle ist kein Überzeugungstäter. Ob der Aufbau intelligenter Stromnetze tatsächlich sinnvoll ist oder nicht – noch will er sich darauf nicht festlegen. Schließlich sei es ja gerade der Sinn von Forschungsprojekten wie in Wildpoldsried, die Vor- und Nachteile herauszufinden.

"Ob es am Schluss nicht gelinde gesagt besser ist, eine schöne Kupferplatte zu bauen, wo das alles betrieben werden kann und man auf die Intelligenz verzichtet, weil's günstiger ist, bzw. wenn man's regulatorisch gar nicht absetzen kann, weil's die Politik nicht vorsieht, die Frage stellt sich noch. Wie intelligent so ein System ist, stellt sich meist erst im Nachhinein raus."

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