Das Risiko der modernen Demokratie

Von Rudolf Burger · 10.09.2006
Sieht man von der Allerweltsvokabel "Kultur" einmal ab, so findet sich in der öffentlichen Debatte heute kaum ein Begriff, der semantisch so verwahrlost ist wie der Begriff "Demokratie". Er fungiert als Gefäß für alles Gute und Schöne, das man sich im politischen Leben nur wünschen kann, von der Friedfertigkeit und Toleranz bis zur Menschenliebe gibt es nichts, was das Wort "demokratisch" nicht an Versprechen enthielte. Und was einem nicht passt, das bezeichnet man als "undemokratisch". Im Namen der Demokratie wird interveniert, protektioniert und diskriminiert, vor allem wird in ihrem Namen moralisiert.
Deshalb war in letzter Zeit viel von "demokratischen Werten" die Rede, und weil ein bisschen Pathos nicht schaden kann, hat man gleich die "demokratischen Grundwerte" beschworen: die Menschenrechte und die Humanität.

Aber so wertvoll diese Werte auch sind, demokratische Werte sind sie nicht. Und dies nicht deshalb, weil sie undemokratisch wären, sondern weil es überhaupt keine demokratischen Werte gibt. Es gibt demokratische Strukturen und Verfahrensweisen, aber es gibt keine ethische Norm, die unablöslich mit Demokratie verbunden wäre, es liegt ganz im Gegenteil im dynamischen Wesen der Demokratie, dass sie alle Werte zur Disposition stellt; sie selbst ist moralisch leer. Demokratie ist formal oder sie ist keine, und der Begriff einer "inhaltlichen Demokratie" ist politisch eine Mogelpackung. Demokratie heißt Herrschaft des Demos, also Volksherrschaft, und die ist, nimmt man den Begriff in seiner prägnanten Bedeutung, nicht unbedingt erfreulich. Denn reine Demokratie hat ihren Fluchtpunkt nicht in der Freiheit, in deren Namen sie propagiert wird, sondern in Diktatur und Terror. Die gesamte klassische Staatstheorie hat das gewusst, von Platon über Kant bis Hegel, nur die heutige Politik-Rhetorik hat es vergessen gemacht. Deshalb redet man von Populismus, will man die negativen Züge der Demokratie hervorheben. Doch der Begriff Populismus ist bloß die latinisierte Form von Demokratismus. Und er Populist ist die moderne Gestalt des Demagogen, der sein Vorbild hat an Perikles, dem größten aller Demagogen.

Wenn legitime Herrschaft tatsächlich "vom Volk" ausgeht, und nur von ihm ohne nähere Qualifikationen, dann gibt es kein wie immer geartetes Kriterium, diese Herrschaft zu begrenzen - jedes Gesetz, jede Verfassung, jeder "Gesellschaftsvertrag", das heißt, jede Selbstbindung des Volkes steht grundsätzlich immer zu seiner Disposition. Die Souveränität des Volkes kennt kein Jenseits, dessen normativer Kraft es unterworfen wäre, und jede eigene Entscheidung kann es revidieren; deshalb auch die Fragwürdigkeit von "Grundwertekatalogen", die immer so tun müssen, als seien sie der Geschichte entzogen, was der Idee der Demokratie frontal widerspricht. Eine Grenze findet die Souveränität nur in der von anderen Völkern, aber das sind Machtfragen immanenter Natur, keine einer transzendent begründeten Moral, auch keine demokratischen Ursprungs.

Daher ist der moderne massendemokratische Staat immer strukturiert von Prinzipien, die selbst nicht demokratischer Natur sind, die er zwar braucht, um funktionieren zu können, die er aber gerade als demokratischer grundsätzlich auch immer bedroht: Garantierte Rücksicht auf Minderheiten und Schwache, Liberalität, Gewaltenteilung, Repräsentativität und vor allem Legalität sind wichtige politische, aber nicht demokratische Prinzipien, so wenig wie Höflichkeit, Toleranz, Weltoffenheit und Humanität demokratische Tugenden sind. Sie sind Tugenden per se, die auch unter anderen Herrschaftsformen möglich sind.

Demokratie ist eine Form politischer Herrschaft, die eine unbegrenzte Vielzahl realer Ausprägungen kennt, von der direkt-plebiszitären über die parlamentarisch-repräsentative und die monokratische Präsidialherrschaft bis zu ihrer Selbstnegation in der Diktatur, die nur möglich sind, weil sie in unterschiedlicher Weise von Prinzipien durchsetzt und gestaltet sind, die selbst nicht demokratischer Natur sind. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie kein metaphysisches Dach über dem Kopf haben, das ihrer Legalität ein für alle mal Legitimität verleiht - demokratisch sind sie immer von Delegitimation bedroht. In dieser "ungesicherten Diesseitigkeit" (K. Podak) liegt die Würde, aber auch das Risiko der modernen Demokratie.

Rudolf Burger, geboren 1938 in Wien, Studium der Technischen Physik an der TU Wien (Promotion 1965), Assistent am Institut für angewandte Physik und am Ludwig Boltzmann-Institut für Festkörperphysik bis 1968; Battelle-Institut in Frankfurt/Main und Planungsstab des Bundesministeriums für Forschung und Technologie in Bonn; ab 1973 Leiter der Abteilung für sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung in Wien; 1979 Habilitation, seit 1990 Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien, von 1995 bis 1999 deren Rektor. Staatspreis für Kulturpublizistik 2000. Hauptarbeitsgebiete: Ästhetik, politische Philosophie; zahlreiche Aufsätze in "Leviathan" und "Merkur". Jüngste Buchveröffentlichungen: "Ptolemäische Vermutungen. Aufzeichnungen über die Bahn der Sitten" (2001); "Kleine Geschichte der Vergangenheit. Eine pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft" (2004); "Re-Theologisierung der Politik?" (2005).