Das rechte Handeln als einzig mögliches Glaubensbekenntnis

Von Hannah Lühmann · 12.05.2012
Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte entwickelte die Vorstellung eines Absoluten Seins, von dem das menschliche Bewusstsein nur eine Ausprägung ist - und verwischte mit dieser These die Grenze zwischen Gott und Welt. Diese Position brachte Fichte viel Wut ein, aber auch Spott.
Johann Gottlieb Fichte ist am ehesten für seine politischen Schriften bekannt, wie die "Reden an die Deutsche Nation", in denen er 1808, also zur Zeit der französischen Besatzung Preußens, versuchte, ein deutsches Nationalgefühl zu wecken. Und vielleicht denkt man noch an seine umstrittenen Äußerungen zum Judentum - aber nur wenige wissen, dass Fichte zunächst ein Theologe war. Roderich Barth forscht als Theologe an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu Fichte:

"Fichte ist, wie eigentlich alle Philosophen des Deutschen Idealismus, von Hause aus protestantischer Theologe - zwar nicht zu Ende studiert, abgebrochener Theologiestudent, aber doch in gewisser Weise natürlich mit einem theologischen Background und ja, wenn man so will, kann man sagen, dass eigentlich die Schrift, die Fichte berühmt gemacht hat, die überhaupt aus einem kleinen, mehr oder weniger gescheiterten Denker und Hauslehrer einen berühmten Philosophen, der einen ganz wichtigen Lehrstuhl in Jena bekommen hat, geworden ist, war eine Schrift zur Religionsphilosophie und seitdem begleitet dieses Thema sein Denken bis zum Lebensende."

Die Schrift, die 1792 den schon beinahe 30-jährigen, verarmten und erfolglosen Fichte gewissermaßen über Nacht berühmt werden ließ, war der "Versuch einer Kritik aller Offenbarung". Fichte stand unter dem unmittelbaren Eindruck seiner Lektüre von Kants "Kritik der praktischen Vernunft", die ihn aus einer Lebenskrise und vom Glauben an die Vorbestimmtheit des menschlichen Handelns erlöst hatte. An seinen Jugendfreund Friedrich August Weißhuhn schrieb Fichte:

"Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, zum Beispiel der Begriff einer absoluten Freiheit, sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur umso froher."

Fichte besuchte Kant persönlich in Königsberg, und der vermittelte ihm einen Verleger. Dieser gab den "Versuch einer Kritik aller Offenbarung" anonym heraus, und die Leser hielten das Buch für die lang erwartete religionsphilosophische Schrift des Altmeisters Kant.

Als Kant das Missverständnis aufklärte und die Identität seines Schülers preisgab, war dieser ein gemachter Mann - er erhielt den renommierten Lehrstuhl für Philosophie an der Jenaer Universität. Die Verwechslung von Fichtes Philosophie mit der seines Vorbilds zeigt, wie eng sich der frühe Fichte an den großen Philosophen der Aufklärung anlehnt - in Stil und theologischen Grundannahmen.

"Man spricht bei Kant von der sogenannten Ethikotheologie, also Kants große Einsicht war ja, Religion gehört nicht in den Bereich des Wissens, sondern Religion ist quasi eine Implikation unseres praktischen moralischen Bewusstseins. Wir brauchen zwar keine Religion, um Moral begründen zu können, aber die Realisation der Moral, die Verwirklichung der Sittlichkeit, die führt dann dazu, dass unsere Vernunft auf religiöse Ideen zurückgreifen muss."

Diese Richtung des kantschen Denkens behält Fichte bei; wie Kant nimmt er an, dass moralisches Handeln nicht durch Religion begründet werden muss, und wie Kant nimmt er in seinem Frühwerk dennoch einen Gott an, der moralischer Gesetzgeber und Welturheber ist.

In seiner ersten Veröffentlichung versucht Fichte sogar, eine Offenbarung dieses Schöpfergottes als philosophische Möglichkeit zu zeigen. Religiosität und Moralität sind also voneinander getrennt, und gerade deshalb kann Gott sich uns im Moralischen offenbaren. Nur sechs Jahre später klingt das ganz anders:

Zitat: "Dies ist der wahre Glaube; diese moralische Ordnung ist das Göttliche, das wir annehmen. Er wird konstruiert durch das Rechttun. Dieses ist das einzig mögliche Glaubensbekenntnis: fröhlich und unbefangen vollbringen, was jedes Mal die Pflicht gebeut, ohne Zweifeln und Klügeln über die Folgen."
Das rechte Handeln als einzig mögliches Glaubensbekenntnis, der Glaube als etwas, das durch das Rechttun konstruiert wird - fast kann man verstehen, dass Fichtes Zeitgenossen, darunter der Arzt und Philosoph Johann Benjamin Erhard, ihm nach der Veröffentlichung seines Aufsatzes "Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung" vorwarfen, er sei Atheist. Die folgende, "Atheismusstreit" genannte Auseinandersetzung brachte Fichte um seinen Lehrstuhl in Jena:

"Der Grund war, dass er eben in dieser Phase nicht mehr von Gott wie Kant nur als dem moralischen Gesetzgeber und Welturheber spricht, sondern quasi nur noch das Göttliche als moralische Weltordnung verstanden wissen wollte. Man kann sagen, er leugnet damit quasi den Theismus, die Vorstellung eines personalen Wesens, Gott als personales, extramundanes Wesen mit Willkür und Willen und metaphysischen Prädikaten, so wie das die lange Tradition des Abendlandes bis in diese Zeiten hinein als selbstverständlich vorausgesetzt hat. Das war die Sprengkraft des Atheismusstreites."

Fichte entwickelte die Vorstellung eines Absoluten Seins, von dem das menschliche Bewusstsein nur eine Ausprägung sei. Dieses Absolute Sein ist dann aber nicht mehr von der Welt getrennt zu denken, es ist schlicht und ergreifend die Welt, es ist alles. Und damit nicht kompatibel mit einem grundsätzlich von der Welt verschiedenen Gott. Diese Positionen brachten Fichte viel Wut ein, aber auch Spott. Sein Zeitgenosse August Wilhelm Schlegel witzelte:

Zitat: "Schon vor Jahren habe ich ihn das Vaterunser mit Einschiebung des Absoluten statt Gottes beten hören."

Von Fichtes Religionsphilosophie ist vor allem eines geblieben: Der Gedanke, dass Moralität sich im richtigen Handeln ausdrückt und nicht im scheinheiligen Glauben an religiöse Prinzipien, denen dann keine redliche Lebenswirklichkeit entspricht. Fichtes originelle und vielfältige Gedanken zur Religion haben die großen Theologen des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigt: den 1933 emigrierten Paul Tillich, den nazitreuen Deutschen Christen Emanuel Hirsch und, was wenig bekannt ist, den Humanisten Albert Schweitzer. Er sieht Fichte als Verfechter dessen, was er selbst "Mystik der Tat" nennt:

"Das ist das entscheidende Stichwort, Fichte als der Religionsphilosoph, der eine Mystik der Tat vor Augen hat. "Mystik" ist also eine Chiffre für religiöses Bewusstsein, aber ein religiöses Bewusstsein, was sich eben nicht in eine Innerlichkeit zurückzieht, sondern eben in einer tätigen Praxis artikuliert, und genau das ist der Punkt, den Schweitzer an Fichte so begeistert hat."

Fichtes religionstheoretische Betrachtungen waren damit Bestandteil des religiösen Denkens eines Theologen, der seine ethischen Erkenntnisse tatsächlich unmittelbar in moralisches Handeln umgesetzt hat. Beispielsweise durch den Bau seines berühmten Krankenhauses im westafrikanischen Gabun. Fichtes Denken inspiriert also eine Religiosität, für die moralisches Handeln wichtiger ist als das religiöse Ritual. Vor allem aber steht es für eine Religiosität, die sich immer auch ihrer eigenen Konstruiertheit und somit der Begrenztheit ihres Geltungsanspruches bewusst ist. Zur Auseinandersetzung um heutige fundamentalistische Ausdrucksformen von Religion hätte Fichte also gewiss noch einiges beizutragen.
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