Das Private ist politisch

Verdient sie wirklich Mitleid? Die Ruderin Nadja Drygalla
Verdient sie wirklich Mitleid? Die Ruderin Nadja Drygalla © picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck
Von Andreas Speit · 13.08.2012
Die Rede ist von Stigmatisierung und Vorverurteilung: Nach ihrer vorzeitigen Olympia-Abreise gilt die Ruderin Nadja Drygalla manchen als unschuldiges Mädchen, dem die Medien Unrecht getan haben. Was ist davon zu halten? Der Rechtsextremismusexperte Andreas Speit über die Grenzen des Tolerierbaren.
"Um tolerant zu sein, muss man die Grenzen dessen, was nicht tolerierbar ist, festlegen." Das betonte Umberto Eco schon vor Jahren zum erstarkenden Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft.

Diese Grenzen der Toleranz müssen in einer offenen Gesellschaft immer wieder neu verhandelt werden. Alle gesellschaftlichen Sphären stehen in dieser ständigen Selbstvergewisserung.

Bitte nicht falsch verstehen: Niemand möchte eine Republik, in der Staat und Verbände – die Gesellschaft – bis "unter die Bettdecke" schauen. Niemand sollte sich aber eine Republik wünschen, in der Zuständige - und wir selbst – auch das vermeintlich "sehr Private" nicht hinterfragen. Denn das Private ist politisch und das Politische privat.

Spätestens als Nadja Drygalla vom mecklenburg-vorpommerischen Innen- und Sportminister Lorenz Caffier von den olympischen Spielen offiziell verabschiedet wurde, wurde sie zu einer öffentlichen Person des Sports. Hätte sie in London im Team eine Medaille errungen, wäre sie zu einer medial gefeierten Sportlerin geworden, die auch von den politischen Repräsentanten gern besucht und empfangen wird.

Die Olympischen Spiele haben - seit der Wiederbelebung der antiken Spiele 1894 - zudem eine selbst gewählte politische Botschaft: Die Botschaft der Völkerverständigung. Olympia - der Sport - ist kein politikfreier Raum. Entgegen aller Beteuerungen. Die Spiele und der Sport sind gesellschaftlicher Resonanzraum der politischen Kulturen. Zwei Olympiateilnehmer mussten die Spiele wegen rassistischer Äußerungen vorzeitig verlassen.

Viel Sympathie wird der Sportlerin mittlerweile entgegengebracht: Die "arme Frau" heißt es, und: Das "unschuldige Mädchen", "wo die Liebe hinfällt": Denn sie hatte in einem Interview erklärt, selbst "keine Verbindungen" zur rechtsextremen Szene zu haben. Und ihr Freund sei nicht mehr bei der NPD und den "Nationalen Sozialisten Rostock".

Von einer "politischen Stigmatisierung", "vorschnellen Vorverurteilung" und "unerträglichen Sippenhaft" wird jetzt in Sport, Medien und Politik gesprochen und geschrieben. Doch werden diese Reaktionen dem Kontext gerecht?

Das Nachfassen der Medien im "Fall Drygalla" war geradezu geboten. Schon die ersten Berichte offenbarten: Die knapp fünfjährige Beziehung war bekannt. Beruflich hatte es für Drygalla Folgen. 2011 verließ sie die Landespolizei nach einem Gespräch mit dem Dienstherren von sich aus. Man könnte auch sagen, sie entschied sich für die Weiterführung der Beziehung mit einem sehr aktiven Rechtsextremen.

Der kürzliche Ausstieg ihres Freundes kommt zu pass. So sehr, so schnell, dass die Glaubwürdigkeit eines ideologischen Wandels fraglich scheint. Auch, weil ihm ein Verfahren wegen schweren Landfriedensbruchs droht. Er war mit dabei, als seine Gesinnungskameraden eine Gedenkveranstaltung für das NSU-Opfer Mehmet Turgut angriffen.

Der Vorwurf der "Sippenhaft" – das darf eingeschoben werden – ist nicht nur wegen der historischen Vorbelastung unpassend. Er ist auch sprachlich ungenau: Ihr Lebenspartner ist kein Blutsverwandter. Jeden Tag hat sich die Sportlerin aufs Neue entschieden, diesen Mann zu lieben.

Eine Entscheidung, über die im Landesportbund und im Ruderverein offenbar nicht genügend geredet wurde. In Politik und Sport sind die Grenzen des Tolerierbaren nicht genug festgelegt worden.

Der zuständige CDU-Innen- und Sportminister sagte nur, allen Beteiligten im Landessportbund sei die Entlassung aus der Polizei bekannt gewesen. Die Zuständigen scheinen sich aber nicht zuständig gefühlt zu haben – das darf als moderatestes angenommen werden.

Ganz klar: Nicht jeder Ton der Medien war angemessen. Hätte es aber ohne die Presse die nötige Diskussion um Toleranzen im Sport gegeben? Nein: Vor dem Start der Olympischen Spiele wäre so jedoch eine Entscheidung möglich gewesen. Sie wurde vermieden. Jetzt, nach den Spielen, müssen grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden.

Andreas Speit, geboren 1966, ist Diplom Sozialökonom, freier Journalist und Publizist. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Projekte gegen Rechtsextremismus, darunter die Informationsportale ‚Blick nach Rechts’ und ‚Netz gegen Nazis’, das Magazin ‚Der rechte Rand’ und der Zeit-Blog ‚Störungsmelder’. Als Kolumnist arbeitet er u.a. für die TAZ-Nord und schreibt für die Jungle World und Freitag. Speit hat mehrere Bücher zum Thema Rechtsextremismus veröffentlicht, darunter "Mädelsache!: Frauen in der Neonazi-Szene", zusammen mit Andrea Röpke im Christoph Links Verlag.

Andreas Speit
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