Das moderne Dilemma des Christentums

21.03.2011
Sauerkraut mit Eisbein soll ja erst abgekühlt und dann aufgewärmt am besten schmecken. Ob das auch für eine Vorlesungsreihe des Bielefelder Soziologie-Professors Franz-Xaver Kaufmann aus dem Jahre 1999 gilt, wenn er sie aktualisiert 2011 noch mal herausbringt?
Weil er seinen Zorn über die vatikanischen Vertuschungsversuche der Missbrauchs-Skandale nur knapp in der FAZ, ausführlich aber in einem Zusatz-Kapitel seines Buches ausbreitet?

Also, mir hat’s geschmeckt. Denn der Autor redet nicht vom Überleben einer individuellen, sich auf dem Markt der Sinnanbieter frei bedienenden Religiosität und auch nicht vom Überleben der Institution Kirche, sondern dezidiert vom Überleben des "Christentums", das heißt vom Entstehen und Bestehen dessen, was Christen glauben und wonach sie leben.

97 Seiten lang erzählt Kaufmann, wie das Christentum in der Antike das magische Weltverständnis entzauberte; wie es im Hochmittelalter erstmalig zwei unabhängige Gewalten auf ein und demselben Territorium schuf – Thron und Altar –; wie es in der Neuzeit die menschliche Personalität aus der Personalität Gottes ableitete und damit die Grundlage für das aufklärerische Verständnis des Menschen als eines autonomen Souveräns legte. Er erzählt, wie die jesuitische Papstkritik, die calvinistische Monarchiekritik und der reformatorische Rückgriff auf das freie Gewissen des Einzelnen in die US-Unabhängigkeitserklärung von 1776 flossen; weshalb "Säkularisation" nicht einfach als "Relevanzverlust von Religion" definiert werden dürfe, sondern auch als "gleichzeitige Enteignung und Bewahrung christlicher Ideen im säkularen Gemeinwesen" gedacht werden müsse.

Das alles ist hochinteressant, doch was der Buchtitel verspricht, löst der Autor erst ab Seite 98 ein. Dann nämlich, wenn Kaufmann das Dilemma des Christentums in der Moderne beschreibt: aufgespaltet in die "institutionellen Zuständigkeiten der Kirchen einerseits und die Privatisierung religiöser Entscheidungen andrerseits", sind die Ideen und Werte des Christentums so sehr Bestandteil eines normativen gesellschaftlichen Konsens geworden, dass man sie nicht mehr als "typisch christlich" erkennt – während gleichzeitig "die Kirchen als etwas Partikulares und Parteiliches wahrgenommen werden".

Die Postmoderne als Zeitalter zügiger Traditionsabbrüche bei gleichzeitiger Sehnsucht nach traditionellen Sicherheiten erwarte vom Christentum "kulturell und moralisch stabilisierende Orientierung" – beklage aber gleichzeitig dessen "Rückständigkeit". Das ist paradox, sicher, es ist der unschuldige Teil einer ansonsten selbstverschuldeten Kirchenkrise, aber – so der Gründer des Instituts für Sozialpolitik Franz-Xaver Kaufmann – es ist keine Überlebenskrise des Christentums an sich.

Besprochen von Andreas Malessa

Franz-Xaver Kaufmann: Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?
Herder Verlag, Freiburg 2011
200 Seiten, 14,95 Euro