Das Mitgefühl als vernachlässigte Tugend

11.05.2012
Leistungsdruck, Erziehungsstress, Überforderung: Was darf man Kindern zumuten und was können Erwachsene tun, um bessere Eltern und Erzieher zu werden? Diese Fragen stellt der dänische Familientherapeut Jesper Juul gemeinsam mit fünf weiteren Autoren.
Es sind Fragen, die den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul schon lange umtreiben und die er in vielen Büchern und zahlreichen Workshops thematisiert hat.

Auch sein neuestes Buch dreht sich um diese Themen, diesmal aber speziell um Empathie, also die Fähigkeit mitzufühlen und anderen mit Respekt zu begegnen. Juul hat es zusammen mit dem Schriftsteller Peter Høeg und vier weiteren Autoren geschrieben. Sie gehören alle dem Verein "Die Lebenskompetenz von Kindern" an, dessen Hauptanliegen es ist, die "Intelligenz des Herzens in der pädagogischen Arbeit mit Kindern zu fördern" und hiervon handelt nun auch das gemeinsam geschriebene Buch.

Es beginnt mit allgemeinen kritischen Überlegungen zum Stand des Erziehungssystems, aber auch der Gesellschaft insgesamt, zu gestressten und überforderten Eltern, unflexiblen Schulsystemen, fehlgeleiteten Förderungs-, oder, wie die Autoren meinen, Überforderungsstrukturen, mit denen schon Kindergartenkinder konfrontiert werden.

Ein bisschen sehr allgemein, aber doch immer gut nachvollziehbar, überfliegen die Autoren die Probleme einer egoistischen und auf Leistung getrimmten Gesellschaft, in der die "Bildung des Herzens" nur wenig Raum einnimmt.

Den Kern des Buches bildet der zweite Teil, in dem konkrete Übungen vorgeschlagen werden, mit denen Erwachsene und Kinder ihre Fähigkeit zur Empathie, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl, ihre Aufmerksamkeit, aber auch ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstsicherheit trainieren können. Denn, so die Autoren, grundlegende Fähigkeiten wie das Mitfühlen sind dem Menschen zwar angeboren, sie müssen aber auch entsprechend entwickelt und vertieft werden.

Mit Anleihen bei klassischen spirituellen und körperlichen Techniken wie Yoga, Tiefenentspannung oder Tai Chi zeigen sie, wie diese Arbeit am Körpergefühl aussehen kann: bewusst atmen, die "Herzgefühle" aktivieren, indem man Gedanken gezielt auf geliebte Personen oder Dinge richtet; singen, zeichnen oder tanzen; aber auch Pausen machen und zur Ruhe kommen.

Das Buch ist zwar für Erwachsene geschrieben, aber durchaus auch an Kinder gerichtet: Ihnen sollen diese Übungen helfen, sich Beziehungsfähigkeit und andere vom Schulsystem und der Gesellschaft (zu) gering geschätzten und vernachlässigten Tugenden anzueignen. Denn, davon sind die Autoren überzeugt, technisch ist unsere Gesellschaft genügend fortgeschritten, woran jetzt gearbeitet werden muss, ist am gesellschaftlichen Zusammenhalt und Miteinander.

Dem folgt man gerne. Störend allerdings sind die häufigen Hinweise auf die bereits existierenden DVDs und Workshops des Vereins. Da wäre weniger mehr gewesen.

Trotzdem unterm Strich ist dieses neue Buch ein nützlicher Ratgeber, der sich nicht auf die Analyse bereits bekannter Probleme beschränkt, sondern ganz konkrete Techniken und Übungen beschreibt, mit denen jeder an sich arbeiten kann.


Jesper Juul, Peter Høeg, Jes Bertelsen, Steen Hildebrandt, Helle Jensen, Michael Stubberup: "Miteinander. Wie Empathie Kinder stark macht."
Aus dem Dänischen von Kerstin Schöps. Beltz Verlag, Weinheim 2012, 159 Seiten, 14,95 Euro


Besprochen von Catherine Newmark


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