"Das meiste ist ausgesprochen langweilig"

Jochen Hippler im Gespräch mit Christopher Ricke · 27.07.2010
Der Politikwissenschaftler Jochen Hippler rät dazu, keine voreiligen Schlüsse aus den bei WikiLeaks veröffentlichten Dokumenten über den Afghanistan-Krieg zu ziehen. Es seien oft subjektiv gefärbte Berichte aus zweiter und dritter Hand, die Fehler enthalten können.
Christopher Ricke: Wer geheime Dokumente verraten will, der hat seit vier Jahren eine ganz bestimmte Adresse: Wikileaks, eine Internetplattform, auf der anonym Dokumente veröffentlicht werden können. Aktuell geht es um mehr als 90.000 Protokolle über den Afghanistan-Einsatz, die Informationen sind ganz offenbar geklaut aus amerikanischen Militärdatenbanken. Hier ist zu lesen, dass der pakistanische Geheimdienst die afghanischen Taliban fördere, dass es ein US-Sonderkommando gebe, das gezielt Jagd auf Aufständische mache.

Jochen Hippler arbeitet am Institut für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg-Essen, er forscht und publiziert über Pakistan. Eins seiner Bücher heißt: "Das gefährlichste Land der Welt? Pakistan zwischen Militärherrschaft, Extremismus und Demokratie". Guten Morgen, Herr Hippler!
Jochen Hippler: Guten Morgen, Herr Ricke!
Ricke: 90.000 Protokolle, das ist viel Holz! Konnten Sie denn schon einen Teil der Dokumente sichten?
Hippler: Ja, ich habe gestern einen großen Teil des Tages damit zugebracht, aber es ist tatsächlich eine sehr unübersehbare Menge und das wird eine ganze Zeit dauern, bis man da was sehen kann. Und das meiste ist auch ausgesprochen langweilig, wenn ich das sagen darf. Also, kurze, knappe Berichte, wann man in welchem Tal mit wem gesprochen hat … Also, der große Teil ist eben wirklich nicht sehr aufregend.
Ricke: Ist es denn glaubwürdig, was Sie da sehen? Ich meine, das ist eine anonyme Veröffentlichung im Internet, dieses Leck, Wikileaks - muss man das ernst nehmen, wenn man sich diese Dokumente jetzt ansieht?
Hippler: Also, es deutet alles darauf hin, dass die Dokumente authentisch sind. Ernst nehmen muss man sie auf jeden Fall, aber man muss sie auch einordnen. Weil eben, es sind sogenannte Rohdaten, das heißt Daten, wo halt irgendein untergeordneter Offizier oder ein Offizier mittlerer Rangordnung an dem Tag, an dem er was erlebt, das eigentlich aufgeschrieben hat so als Kurzbericht, und da können auch Fehler dann … Gelegentlich kommt es zu Hörensagen, dass da halt Dinge stehen, die eben die Eindrücke von Leuten sind, aber das heißt ja nicht, dass die gleich stimmen müssen. Das heißt, man muss es ernst nehmen als wichtige Quelle, aber man darf es nicht als eine Bibel betrachten und glauben, man könnte jedes Wort und jeden Bericht davon tatsächlich zum Nennwert nehmen.
Ricke: Man kann aber doch ganz klare Anschuldigungen herausfiltern - dass zum Beispiel der pakistanische Geheimdienst nach wie vor die Taliban unterstützt, obwohl die pakistanische Regierung ja eigentlich an der Seite der USA steht. Den Verdacht gab es schon immer mal wieder, ist das jetzt der Beweis?
Hippler: Na ja, das ist gerade so ein Punkt, an dem es sehr dünn wird, also wo eben tatsächlich in den Berichten zumindestens die, die bisher zu sichten waren, ein bisschen Hörensagen sind, Sachen aus zweiter und dritter Hand, und nicht wirklich Belege erkennbar sind. Sondern es sind eben wirklich Eindrücke von Soldaten, die der Meinung sind, dass … und dass ihnen jemand mal was erzählt hat. Also, da wäre ich ein bisschen vorsichtig. Ein paar Sachen, die Substanz haben, beziehen sich eben auf ehemalige Offiziere, also zum Beispiel worum es geht, ist eben der General a. D. Gul, mit, den ich auch mal selber das Vergnügen hatte kennenzulernen: Da glaube ich schon, dass der Verdacht Hamid Gul gegenüber, dass er so eine Rolle spielen kann mit den Taliban, durchaus glaubwürdig ist. Er ist halt so ein Hitzkopf. Aber der Mann ist seit 21 Jahren nicht mehr im Militär. Der war mal Chef des Militärgeheimdienstes, aber das ist eben 21 Jahre her. Und den als Beleg anzubringen, dass das Militär oder der Militärgeheimdienst da heute hinter steckt, das ist schon ein kleines bisschen gedehnt, da müsste man schon noch mal sehr gründlich nachrecherchieren.

Ricke: Ein kleines bisschen gedehnt – klingt sehr diplomatisch. Ich frage mal ganz undiplomatisch: Hat das Material wissenschaftlich überhaupt Wert?

Hippler: Also, jede Quelle hat wissenschaftlichen Wert. Wissen Sie, wenn Sie Umfragen machen mit Menschen, was sie von irgendwas halten, dann kriegen Sie ja auch nur Eindrücke und nicht die Wahrheit. Und so, also insofern ist das eine wichtige Quelle, die man ernst nehmen muss. Aber es ist wissenschaftlich schon wichtig, nicht jeden dieser Berichte wirklich tatsächlich ernst zu nehmen, da gibt es Irrtümer drin, da gibt es Hörensagen, gelegentlich wird der Bruder von Karsai mit dem Cousin von Karsai verwechselt. Also insofern, das sind Menschen, die was berichtet haben, und Menschen geben eben manchmal Gerüchte wieder und manchmal geben sie präzise die Wahrheit wieder und manchmal irren sie sich einfach. Und das ist jetzt die Aufgabe auch von Wissenschaft und auch von Journalisten, rauszukriegen wie man da die wertvollen Informationen von denen aus zweiter und dritter Hand trennen kann.

Ricke: Sie beobachten den politischen Prozess in der Region seit Jahren. Haben Sie den Eindruck, dass Wikileaks und diese Dokumente, diese große Klein kleinteiliger Information in diesem politischen Prozess in irgendeine Richtung beeinflussen kann?

Hippler: Also, ich glaube schon. Häufig finden sich insgesamt - jetzt nicht nur bei dieser Veröffentlichung, sondern auch bei anderen Leaks - finden sich eben wertvolle Informationen, die Regierungen versuchen, zu verheimlichen oder herunterzuspielen. Das ist sehr wichtig. Und auch die Reaktionen, die wir jetzt aus Washington hören, die wir teilweise ja auch vom Bundesverteidigungsminister gehört haben, die deuten schon auf eine gewisse Nervosität hin, weil natürlich solche … dass die Herausgabe solcher Interninformation natürlich die Möglichkeiten von Regierung und Behörden vermindert, den Informationsstrahl zu kanalisieren und nur das an die Menschen ranzulassen, was sie möchten. Und das empfinden Regierungen natürlich als lästig und bedrohlich. Und das ist aber eben teilweise auch der Wert dieser Quelle.

Ricke: Jochen Hippler vom Institut für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg-Essen. Vielen Dank, Herr Hippler!
Hippler: Sehr gern!