"Das Leben ist nicht auszuhalten"

Thomas Wieland im Gespräch mit Marietta Schwarz · 12.07.2010
Dass der Wiederaufbau in dem von einem Erdbeben zerstörten Land so schleppend vorangehe, liege auch daran, dass sich die Regierung in Haiti "sehr stark" auf die internationale Hilfe verlasse, kritisiert Thomas Wieland vom Hilfswerk Adveniat.
Marietta Schwarz: Genau ein halbes Jahr liegt das Erdbeben in Haiti jetzt zurück, jenes Beben, das zwischen 200.000 und 300.000 Menschen in den Tod riss und eineinhalb Millionen obdachlos machte. Das Medieninteresse an dieser Katastrophe hat stark nachgelassen, was aber keinesfalls bedeutet, dass es in Haiti voran geht, bergauf geht. Der Wiederaufbau stockt, die Trümmer von vor sechs Monaten sind noch nicht weggeräumt, die Menschen leben immer noch in Zelten.

Am Telefon verbunden bin ich nun mit Thomas Wieland, Leiter der Projektabteilung beim katholischen Hilfswerk Adveniat. Guten Morgen!

Thomas Wieland: Guten Morgen, Frau Schwarz.

Schwarz: Herr Wieland, Sie waren zuletzt im März in Haiti, kennen das Land aber schon viel länger. Was haben Sie für eine Erklärung dafür, dass der Wiederaufbau sich so schleppend gestaltet?

Wieland: Die Dimensionen des Erdbebens sind wahnsinnig. Es war ein katastrophaler Schlag für das Land: die Hauptstadt zerstört, zwischen 200.000 und 300.000 Menschen tot. Da wieder aufzubauen, den Kopf erst mal aufzurichten und an den Wiederaufbau heranzugehen, das erfordert viel Kraft und das erfordert auch viel Zeit. Das ist sicher auch ein Grund, warum es für den Wiederaufbau langsam vorangeht, dass die Menschen sich erst mal wieder organisieren müssen. Die Hilfswerke haben dabei geholfen, dass wenigstens Lebensmittel, Wasser, Medikamente zur Verfügung stehen, dass Zelte zur Verfügung stehen, provisorische Unterkünfte. Trotzdem ist das Leben unter diesen Bedingungen ein halbes Jahr nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 nicht auszuhalten.

Schwarz: Welche Rolle hat da die Regierung in Haiti? Verlässt sie sich auf die internationale Hilfe?

Wieland: Die Regierung in Haiti verlässt sich sehr stark auf die internationale Hilfe. Sie ist auch durch das Erdbeben geschlagen. Die Gebäude sind ja zerstört, die Ministerien sind am Boden. Ich traf auf meiner Reise auch Regierungsvertreter, die sitzen in einem Hotel, auf Klappstühlen im Garten. Die Voraussetzungen, um ein ordentliches Regierungshandeln zustande zu bringen, sind natürlich auch denkbar schlecht. Aber das ist nicht erst heute so, sondern die Regierung war schon immer schwach, die Strukturen in Haiti sind schwach ausgebildet. Man muss sich vorstellen, dass nach dem Erdbeben es kein Technisches Hilfswerk oder etwas Ähnliches gibt, um da einzuschreiten. Die Regierung spielt sicher eine wichtige Rolle dabei, dass es nicht vorangeht, aber nicht nur.

Schwarz: Bill Clinton, der frühere US-Präsident, ist UN-Sondergesandter für Haiti, und er beklagt, dass die versprochenen Milliarden-Hilfen der internationalen Gemeinschaft einfach nicht eintreffen. Haben die Regierungen da nur leere Versprechungen abgegeben, oder was ist das Problem?

Wieland: Die Sache ist so, dass die Gelder, die die Regierungen versprechen, bei der Weltbank eingezahlt werden sollen und ein 26-köpfiges Team über die Vergabe der Mittel dann entscheidet. Die Regierungen geben natürlich auch insofern Mittel, inwieweit Projekte zur Verfügung stehen, und da hat die haitianische Regierung auch einfach eine gewisse Bringschuld, Projekte vorzulegen, damit die Gelder auch sinnvoll eingesetzt werden können.
Und die Frage der Korruption ist natürlich auch da. Das heißt, die haitianische Regierung genießt – und ich finde, zu Recht – auch wenig Vertrauen bei der internationalen Gemeinschaft. Man muss sich vorstellen, dass auch Hilfsorganisationen, vor allen Dingen die kirchlichen und privaten Hilfsorganisationen, oft auch lange warten, bis Güter aus dem Hafen freigegeben werden, weil es einfach in den Regierungsstrukturen auch den Wunsch gibt, sich selbst zu bereichern angesichts der Krise.

Schwarz: Andererseits kritisiert die haitianische Regierung, dass das Ausland, auch die Hilfsorganisationen, ihr eigenes Süppchen in Haiti kochen, denn bei ihr kommen offenbar diese Gelder nicht an. Ist gegenseitiges Misstrauen das große Problem?

Wieland: Dass die Haitianer selbst zu Wort kommen, ist auch ein wichtiges Anliegen, genau, und das ist auch die Gefahr. Wenn man nämlich angesichts der Situation in Haiti sieht, dass die Menschen noch in den Zelten leben, dann ist der Impuls bei uns erst mal da, die Ärmel hochzukrempeln und zu sagen, so, jetzt regeln wir die Situation, und das kritisieren die Haitianer auch zu Recht, die sagen, wir haben einen eigenen Rhythmus, vergesst uns nicht beim Wiederaufbau unseres Landes. Die ausländischen Hilfsorganisationen, die anderen Staaten können nicht über das neue Haiti entscheiden. Da gibt es natürlich auch unterschiedliche Interessen und es ist angesagt, dass die Hilfswerke sich auf diesen haitianischen Rhythmus auch einlassen. Die Haitianer in dem Sinne sind die Zivilbevölkerung, in unserem Fall sind es die kirchlichen Partnerinnen und Partner, die Pfarrgemeinden, die Ordensleute, die dann ihre Stimme erheben und auch mitbestimmen sollen, wie das neue Haiti aussehen soll.

Schwarz: Jetzt ist gerade der kanadische Oberbefehlshaber der UN-Mission in Haiti abberufen worden. Ist da bei den Vereinten Nationen möglicherweise auch einiges schief gelaufen?

Wieland: Es ist ja so, dass die Vereinten Nationen auch durch das Erdbeben stark getroffen waren, dass sie sich auch selbst erst neu aufstellen müssen. Es sind etwa 13.000 Soldaten, so weit ich weiß, für die Sicherheit im Land zuständig, allerdings auch viele, die dann den Zivilaufbau vorantreiben sollen. Die UN-Mission in Haiti wurde stark kritisiert als ausländische Einmischung. Aber ich denke, dass sie wichtig ist und dass sie vorangehen muss. Sicher muss die sich auch neu aufstellen, und da gibt es auch unterschiedliche Interessen zwischen den verschiedenen beteiligten Nationen. Die Brasilianer haben da auch eine wichtige Rolle gespielt, vielleicht spielt das auch rein bei der Abberufung des Befehlshabers.

Schwarz: Herr Wieland, wie sieht es denn bei Adveniat, bei den Projekten aus, die Sie in Haiti umsetzen wollten? Konnten Sie das so tun wie geplant, oder wurden Ihnen da Steine in den Weg gelegt?

Wieland: In unserem Fall ist es so, dass Adveniat über die kirchliche Struktur tätig ist. Wir unterstützen ja etwa 130 Projekte im ganzen Land. Da ist es so, dass das Erdbeben an sich natürlich die Arbeit verändert hat. Viele Partner sind selbst betroffen von dem Erdbeben. In den Pfarrgemeinden, die wir unterstützen, kommen Flüchtlinge an. Wir haben selbst jetzt keine Schwierigkeiten gehabt von staatlicher Seite, unsere Hilfe fließen zu lassen und die Projekte umzusetzen. Allerdings merken wir auch, dass bei den Partnern die Schwierigkeit ist, Projekte zu formulieren und sie uns vorzulegen.

Schwarz: Was sind das für Projekte?

Wieland: Wir unterstützen in den Gemeinden vieles, das Ziel ist die Community Building, dass vor Ort die Pfarrschulen funktionieren können, dass es Gebäude gibt, wo sich die Gemeinden treffen können, das Leben ihres Viertels planen und organisieren können. Diese Maßnahmen sind einfach noch am Stocken, weil der Schutt noch nicht in der Weise weggeräumt ist, wie er weggeräumt sein müsste, weil die Gemeinden natürlich auch dadurch, dass sie viele Todesopfer zu beklagen haben, noch nicht sich so in der Weise konsolidiert haben, wie das sein sollte.

Schwarz: Was muss jetzt nach Ihrer Meinung passieren für einen effizienten Wiederaufbau in Haiti?

Wieland: Zunächst müssen Zwischenlösungen angeboten werden. Die Felder sind eine Möglichkeit, dass die Leute ein Dach über dem Kopf haben. Die Schulen funktionieren jetzt vorübergehend unter Holzdächern, in Zelten. Die Leute müssen die Möglichkeit haben, sich zu treffen, sich zu organisieren an der Basis. Das ist der erste Schritt, um dann in einem zweiten Schritt den langfristigen Wiederaufbau zu planen. Da sind natürlich die staatlichen Vorgaben wichtig: Wo soll denn die Hauptstadt, in welcher Weise soll sie wiederaufgebaut werden, wie sieht das neue Haiti aus, wie kann die Grundstücksfrage geklärt werden? Und dann erst mit langem Atem kann an den Wiederaufbau Haitis gedacht werden. Ich glaube, von Seiten der Hilfswerke und der internationalen Gemeinschaft, uns steht es gut an, auch mit langem Atem dort heranzugehen und das auch langfristig und gründlich zu planen.

Schwarz: Thomas Wieland, Leiter der Projektabteilung beim katholischen Hilfswerk Adveniat, über den Wiederaufbau in Haiti. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wieland!

Wieland: Danke schön, Frau Schwarz!
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