Das Leben ist in ständiger Bewegung

Von Anette Schneider · 24.01.2013
Immer wieder Giacometti! Man sollte meinen, man kennt langsam alles von und über den Künstler. Doch jetzt widmen sich in Hamburg gleich zwei Ausstellungen unabhängig voneinander dem Schweizer Bildhauer. In der Hamburger Kunsthalle geht es in "Giacometti. Die Spielfelder" erstmals überhaupt um Giacomettis Idee der "Skulptur als Platz". Das Bucerius Kunst Forum legt den Schwerpunkt auf das persönliche Umfeld Giacomettis.
Aragon, Sartre, Strawinsky, Beckett, Breton - die skizzenhaften Porträts von Künstlern und Intellektuellen aus dem Paris der späten 40er Jahre, die das Bucerius Kunst Forum zeigt, schuf Giacometti in Cafés - eine Vorstellung, die so gar nicht in das vorherrschende Bild des Künstlers als scheuem, zurückhaltendem Menschen passt.

Direktorin Ortrud Westheider: " Wir zeigen hier einen ganz anderen Giacometti, nämlich einen sehr kommunikativen Menschen, der eben auch aus der Kommunikation seine Kunst sog. Er hat sich einmal wöchentlich zum Lunch mit Simone de Beauvoir und Sartre getroffen. Er war in der Café-Szene ein Gesprächspartner, der einen Magnetismus hatte: Man wollte sich gern mit ihm austauchen, und er hatte unheimlich viel zu sagen."

Sinnfällig zeigt die Gegenüberstellung von Intellektuellenporträts und den gleichzeitig entstandenen schmalen Skulpturen, wie sehr Giacomettis Menschenbild Ausdruck des Denkens seiner Zeit ist.

Dieser traditionelle Blick auf Giacometti wird in der Hamburger Kunsthalle gehörig durcheinandergewirbelt. In "Giacometti. Die Spielfelder" präsentiert die Kuratorin Annabell Görgen das vermeintlich bekannte Werk des Künstlers unter völlig neuem Blickwinkel - und das absolut überzeugend:

"Was wir versuchen wollen ist, den jungen Giacometti zu zeigen. Sein Werk, was er in der surrealistischen Zeit entwickelt, und die Bedeutung dieses Werkes darzulegen für sein so berühmtes Spätwerk. Und jung zum Zweiten, weil wir sehen, dass das, was er dort um 1930 für die Kunst, für die Bildhauerei entdeckt - dass das etwas ist - nämlich die Skulptur als Feld, als Spielfeld, die Skulptur als Handlungsraum - die die Kunst bis heute bestimmt. Dann können wir entdecken, dass sich das Giacometti schon 1930 ausgedacht hat."

Und: Die Idee beschäftigte ihn bis zu seinem Tod 1966. Annabell Görgen ist die erste, die auf diese Kontinuität stieß - und ihr ist damit ein kunsthistorischer Coup gelungen. Dabei hat sie "lediglich" das Werk als Ganzes betrachtet, und nicht, wie üblich, in ein unwichtiges Frühwerk und das berühmte Spätwerk geteilt.

So eröffnet die Ausstellung mit noch nie gezeigten Arbeiten aus den 20er- und 30er-Jahren. Giacometti schuf damals totemähnliche Objekte. Etwa eine horizontal stehende Holzscheibe mit einigen Ausbuchtungen und Hörnern, die er in einem weiteren Schritt aus der Vertikalen in die Horizontale verlagerte:

"Das, was als Skulptur normalerweise sich vertikal dem Betrachter entgegenstellt, legt er in die Fläche. Und diese Fläche eröffnet ein Handlungsfeld. Ein Spielfeld, in dem die einzelnen Elemente dezentriert und mobil beweglich sind. ... Und damit revolutioniert er die Bildhauerei, weil er zum ersten mal die Skulptur als Platz denkt."

Giacometti treibt diese Idee immer weiter - und die Ausstellung führt das mitreißend vor: So gleichen die abgedunkelten, dunkelbraun gestrichenen Ausstellungsräume einem riesigen Spielfeld, dem sich der Besucher kaum entziehen kann: Auf flachen Tischen etwa stehen Giacomettis erste, kleine Spielbretter - sämtlich Unikate aus Holz oder Marmor. Vor ihnen kann man auf Hockern imaginieren, was geschähe, würde man die an Mann und Frau erinnernden Objekte bewegen - ihre Beziehung zueinander verändern.

An den Wänden hängen zahlreiche Skizzen, und plötzlich entdeckt man: Giacometti hatte sich die Spielfelder groß und für den öffentlichen Raum gedacht. Auf Atelierfotos sieht man sogar einige der Objekte als meterhohe Gipsmodelle:

"Er träumt Zeit seines Lebens von "großen Dingen im Freien", wie er es nennt. Er hat einen Auftrag für eine Landschaftsskulptur. Und die ist auch der Auslöser, dass er diese Modelle für Plätze entwickelt, diese Spielbretter. Im Prinzip sind all diese Spielbretter neu zu sehen, nämlich als Entwürfe für riesengroße Platzgestaltungen."

Ende der 30er-Jahre folgt ein weiterer Schritt: Giacometti hatte sich wieder auf die menschliche Figur besonnen - und verwendete nun seine berühmten schmalen Skulpturen als Spielfiguren! Immer neue Konstellationen entwarf er, schuf große und kleine Einzelfiguren, Gruppen, Schreitende, Stehende:

"Sie werden zu Zeichen für den Menschen. Und es sind die Schreitenden, es sind die Suchenden, die aneinander vorbeigehen in der anonymen Großstadt, sich nicht treffen, durch Zufallskonstellationen erstaunliche Kompositionen bilden. Und anhand dieser Beobachtung - dieser Zufallskonstellationen der Plätze in der Großstadt - versucht Giacometti die Totalität des Lebens, wie er sagt, zu fassen."

Der letzte Raum dieser großartigen Ausstellung führt all diese Überlegungen noch einmal zusammen: Dort steht man zwischen drei überlebensgroßen Skulpturen, die Giacometti 1965 für die Chase Manhattan Plaza schuf - aber nie aufstellte. In dem Raum, der als einziger den Blick nach Draußen freigibt, begreift man, weshalb nicht: Das Leben, der Mensch, die Giacometti in seiner Kunst fassen wollte, sind in ständiger Bewegung. Es gibt für seine Figuren keine endgültige Position!

Weitere Informationen:

Hamburger Kunsthalle
Bucerius Kunstforum
Alberto Giacometti: "Großer Kopf Diegos", 1954
Alberto Giacometti: "Großer Kopf Diegos", 1954© AP Archiv