"Das ist eine ungeheure politische Leistung"

Karl-Heinz Paqué und Klaus Schroeder im Gespräch mit Maike Albath · 03.10.2009
Die deutsche Politik habe 1989/90 in einer "historisch völlig einmaligen Situation", "schnell, entschlossen und im Wesentlichen nicht falsch" gehandelt, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Karl-Heinz Paqué, der in seinem Buch "Die Bilanz - eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit" die Alternativen zum damaligen Vorgehen durchspielt.
Maike Albath: Sie war ein beispielloses wirtschaftliches und soziales Experiment, die deutsche Wiedervereinigung. Wir feiern in diesem Herbst 20 Jahre Mauerfall und wollen heute am Tag der Deutschen Einheit einen Blick zurückwerfen auf die Geschichte der Wiedervereinigung und über zwei neue Bücher diskutieren. Dazu begrüße ich im Studio Karl-Heinz Paqué, Professor für Internationale Wirtschaft an der Universität Magdeburg, FDP-Politiker und zwischen 2002 und 2006 Finanzminister von Sachsen-Anhalt. Guten Tag, Herr Paqué.

Karl-Heinz Paqué: Guten Tag, Frau Albath.

Maike Albath: Mit dabei ist außerdem der Professor für Politikwissenschaften Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, Verfasser zahlreicher Studien, nicht nur über den SED-Staat, sondern auch über die Folgen der Einigung. Guten Tag, Herr Schroeder.

Klaus Schroeder: Ja, schönen guten Tag.

Maike Albath: Von Karl-Heinz Paqué ist gerade ein Buch erschienen über die Kosten der Einheit. Aber bevor wir zur Bilanzierung kommen, möchte ich mit meinen Gästen über ein neues Buch von dem Historiker Gerhard A. Ritter sprechen. "Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk! - Geschichte der deutschen Einigung" heißt der schmale Band. Das ist ja ein Titel, Herr Paqué, in dem gleich auf das Element der Bürger und deren Bedeutung Bezug genommen wird. Wie ist da die Einschätzung von Ritter? Ist er der Ansicht, dass das Volk so eine zentrale Rolle hatte? Oder sagt er auch etwas darüber, dass die Wirtschaft ganz einfach zusammengebrochen ist?

Karl-Heinz Paqué: Er sagt beides. Aber er betont immer wieder ganz ausdrücklich, dass die politischen Entscheidungsspielräume maßgeblich eingeschränkt und gelenkt wurden durch die Menschen auf der Straße, die Menschen, die mit der Situation unzufrieden waren, die bereit waren abzuwandern. Das hatte maßgeblichen Einfluss auf die damaligen Entscheidungen. Und das sehe ich genauso. In diesem Punkt stimme ich absolut überein.

Maike Albath: Herr Schroeder, eine "weltpolitische Lage besonderer Art" ist ja für Ritter auch wichtig. Das betont er mehrfach. Sind Sie damit einverstanden, dass das schon die Grundvoraussetzungen waren für die Umwälzungen damals?

Klaus Schroeder: Ja, der Zusammenbruch der DDR kündigte sich ja an in dem Auseinanderdividieren des Ostblocks. Die verschiedenen Länder versuchten eigene Wege zu gehen, voran Polen und Ungarn. Wenn man nicht den gesamten Ostblock in den Blick nimmt, dann kann man auch nicht erklären, warum sich in der DDR die Ereignisse irgendwann überstürzten und nach dem 9. November dann ja das Aus für die DDR kam. Insofern gilt es beides zu berücksichtigen, die internationale Lage, die Schwäche der Sowjetunion, die Stärke des Westens. Die USA hatten ja schon 1989 im Frühjahr begonnen eine Strategie zu entwickeln, wie Ost- und Mitteleuropa transformiert werden kann, losgelöst werden kann von der Sowjetunion. Das findet man hier zwar nicht im Buch, aber das ist sozusagen in der Zeitgeschichte schon relativ gut erforscht.

Die Stärke des Buches von Ritter ist, die Sozialpolitik in den Fokus zu rücken, zu zeigen, wie die verschiedenen sozialpolitischen Akteure in Ost und West es vermocht haben, die Wirtschafts- und Währungsunion zu ergänzen um eine Sozialunion, vielleicht nicht unbedingt zum Besten des Vereinigungsprozesses.

Maike Albath: Da gibt es ja ein paar Faktoren, die bei ihm auch erwähnt werden, nämlich die Tatsache, dass bestimmte Einrichtungen, die gerade für die Sozialpolitik entscheidend waren - ich denke da an die Kindertagesstätten oder an Versorgungen, die auch Mütter in Anspruch nehmen konnten, oder auch Strukturen der Universität -, dass da nichts übernommen wurde.

Wie steht er denn dazu? Wird das als ein Verlust bemängelt? Welches sind die sozialpolitischen Anteile, die er auch kritisch sieht in diesem Einigungsprozess, Herr Paqué?

Karl-Heinz Paqué: Er sieht insgesamt - und das basiert auf seiner früheren Forschung, die in dem Werk erschienen ist, von 2006 über den "Preis der Einheit", wie er es nennt - den westdeutschen Sozialstaat im Grunde übergestülpt über die DDR. Er lässt immer offen, ob es Alternativen gab. Ich glaube, er ist auch selbst skeptisch, dass es wirklich Alternativen gab in der Situation, aber er macht immer deutlich, dass das natürlich eine Menge Geld gekostet hat und aus seiner Sicht auch negative wirtschaftliche Konsequenzen hatte.

Ein zentraler Punkt ist dabei natürlich das Rentenüberleitungsgesetz, das letztlich ja bedeutete, dass die Lebensleistung der Arbeitnehmer – und Arbeitnehmerinnen vor allem – in der DDR-Zeit anerkannt wurde. Dadurch sind natürlich für die Rentenversicherungen enorme Kosten entstanden. Die wurden letztlich auf den Beitragszahler überwälzt, nicht den Steuerzahler, mit Verspätung den Steuerzahler. Das kann man zu Recht kritisieren als einen Fehler, einen Konstruktionsfehler der Einheit.

Klaus Schroeder: Ja, es war wahrscheinlich der zentrale Fehler, die Finanzierung der Einheit zu großen Teilen über die Sozialkassen. Man hat diesen Weg auch gewählt, um die wahren Kosten etwas zu verschleiern. Das kommt in dem Buch nicht so richtig zum Vorschein. Was aber deutlich sichtbar wird, ist diese Koalition, wie Sozialpolitiker im Westen, SPD, Gewerkschaften, mit Vertretern der Volkskammer agieren und wie sie es schaffen, diesen Vereinigungsprozess, der ja schwer genug war, sozialpolitisch zu belasten. Es ging weniger um die Übernahme von Institutionen der DDR. Die Kindergärten sind ja weitgehend erhalten geblieben, die Kinderbetreuungsplätze. Sie sind bloß umfassend saniert und modernisiert worden. Das Gesundheitswesen ist modernisiert worden. Also, diese herausragenden Leistungen des Vereinigungsprozesses werden meines Erachtens nicht hinreichend gewürdigt bei Herrn Ritter.

Maike Albath: Wie ist das denn mit der Anpassungsleistung der Ostdeutschen? Das ist ja auch eine Tatsache, über die schon viel diskutiert wurde in den letzten Jahren. Spielt das für den Historiker Ritter eine Rolle, Herr Paqué?

Karl-Heinz Paqué: Hier könnte man kritisch anmerken, dass es eine zu geringe Rolle spielt. In seinem Buch ist es in der Tat so, dass es mehr um Institutionelles geht. Das, was in den 20 Jahren bisher passiert ist, das ist ja ein dramatischer Strukturwandel. Das ist möglicherweise der schnellste Strukturwandel, der radikalste Strukturwandel, der jemals in einem Industrieland stattgefunden hat. Und da bleibt das Buch etwas blass. Aber das beeinflusst nicht mein insgesamt positives Urteil, insbesondere dann, wenn man das Buch von 2006 mit in den Blick nimmt.

Maike Albath: Klaus Schroeder, für wen ist dieses Buch gedacht? Für wen ist es eigentlich die ideale Lektüre?

Klaus Schroeder: Für Studenten, für Lehrer, aber auch für Politiker, die sich noch mal in Erinnerung rufen sollten, wie es damals aussah. Es wird auch die Ausgangslage beschrieben - nicht hinreichend genug, aber der Niedergang der DDR-Wirtschaft wird durchaus zutreffend erwähnt. Es könnte aber auch ein Lehrbuch sein, wie man mit Sozialpolitik nicht umgehen sollte oder dass man die Folgen sozialpolitischer Entscheidungen stärker mit berücksichtigen sollte. Das fehlt mir ein bisschen. Und das liegt daran - Herr Paqué hat es eingangs erwähnt: Herr Ritter ist sozusagen ein Fan des westdeutschen Sozialstaats und ist letztlich erleichtert, dass dieser Sozialstaat übertragen wird, ohne zu sehen, dass vielleicht für die ersten zehn Jahre hier auch negative Folgen zu berücksichtigen waren.

Maike Albath: Wagt er denn eine Prognose? Kann man so etwas aus den Dingen ablesen, die er summiert, und aus seiner Beurteilung der letzten 20 Jahre, Karl-Heinz Paqué?

Karl-Heinz Paqué: Nicht wirklich. Ich finde, das Buch scheut sich letztlich immer vor etwas radikaleren und auch gewagteren Urteilen. Was ich auch so ein wenig vermisse, mir fehlt so ein bisschen, das ist vielleicht auch die wirtschaftswissenschaftliche Sicht, eine weitergehende Perspektive, die dann das Ergebnis dieses Vereinigungsprozesses in die Globalisierung einbettet. Ich finde, das bleibt auch ein wenig blass in dem Buch.

Klaus Schroeder: Ja, das Buch endet sehr unvermittelt damit, dass die Vereinigung eben da war. Und den Vereinigungsprozess als solchen, den Sie ansprechen, der wird hier gar nicht erwähnt, die letzten 20 Jahre, sondern es geht ihm im Wesentlichen um die Jahre ’89/’90 und die Vollendung der institutionellen Einheit und nicht um das, was danach geschieht. Die Umwälzungen, die Sie angesprochen haben, bleiben hier sowohl soziologisch als auch historisch außen vor.

Maike Albath: Wir sprachen über Gerhard A. Ritters neuen Band "Geschichte der Deutschen Einigung" - Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk!" lautet der Titel. Das Buch liegt in der Beck'schen Reihe im Beck Verlag vor.

Und jetzt wollen wir noch diskutieren über den neuen Band von Karl-Heinz Paqué, "Die Bilanz - eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit". Herr Paqué, wie teuer war denn die deutsche Einheit, wenn Sie das schon so im Titel benennen?

Karl-Heinz Paqué: Nun, man kann über die konkrete Summe streiten, ob es 1,2 - 1,4 - 1,6 Billionen Euro sind. Sie war sehr, sehr teuer. Ich glaube, das ist die Grundlinie des Ganzen. Die Frage ist nur: Gab es Alternativen zu diesem teuren Weg? Und das ist eine zentrale Frage, die mich in dem Buch beschäftigt.

Maike Albath: Eine Billion hat zwölf Nullen, nur zur Erinnerung. Das weiß man ja dann manchmal gar nicht mehr so genau bei diesen ungeheuren Summen. Herr Schroeder, es gibt ja diese Formulierung, die uns allen immer im Kopf herumspukt, von den "blühenden Landschaften". Karl-Heinz Paqué nennt sie natürlich auch in dem Buch. Zu welchem Ergebnis kommt er denn? Warum ist diese Fehleinschätzung passiert und wie hat sich dieser Prozess vollzogen?

Klaus Schroeder: Zum einen, das Buch ist eindrucksvoll, weil es aufzeigt, dass Alternativen, die damals diskutiert wurden, die heute noch bedauert werden, zu ganz anderen negativen Folgen auch geführt hätten - vielleicht nicht zu denen, die eingetreten sind, aber zu wahrscheinlich noch viel schlimmeren.

Das ist das Verdienst des Buches: aufzuzeigen, dass manche Probleme einfach nicht anders zu lösen waren. Es gibt eine gewisse Ausweglosigkeit. Das fängt an bei den Lohnerhöhungen, bei der Währungsumstellung, bei ganz vielen Dingen. Aber der zentrale Punkt, der in dem Werk hier gut zum Tragen kommt, ist, dass der Zustand der DDR-Wirtschaft nach 40 Jahren zentralistischer Planwirtschaft so war, dass man über Nacht gar nicht blühende Landschaften herbeizaubern konnte. Das ist der zentrale Punkt. Das wird immer übersehen. Die Schlussbilanz der DDR: Die DDR war wirtschaftlich am Ende. Sie lebte noch von der Substanz des nationalsozialistischen Deutschlands in vielen Branchen. Und sie war finanziell nicht mehr in der Lage, den Modernisierungsprozess in Gang zu setzen. SED-Ökonomen und Politiker hatten ja 1989 im Herbst/ Winter prognostiziert, dass man zwei, drei Nationaleinkommen - entspricht ungefähr dem Bruttoinlandsprodukt von uns - benötigen würde, um eine Modernisierung in Gang zu setzen. Das wiederum hätte einen Abbau des Sozialstaats in der DDR um mindestens ein Drittel, wenn nicht um die Hälfte bedeutet. Das hätte ein Wehklagen ohne Ende gegeben. Und das ist den meisten Akteuren - damals wie heute - nicht klar, dass die Alternative, die Fortsetzung des DDR-Wegs in die Irre geführt hätte, in sozialen Abbau sondergleichen. Das sollte man stärker hervorheben. Dann wird die Leistung, die die Politik - manchmal auch wider besseren Wissens - einfach erbracht hat, angemessen gewürdigt.

Karl-Heinz Paqué: Ein zentrales Anliegen dieses Buches ist, das war auch von vornherein meine Absicht, deutlich zu machen, welche ungeheuren Kosten eine Abschottung vom Weltmarkt hat. Wenn man sich 40 Jahre lang wie unter einer Käseglocke überhaupt nicht an den Preisanreizen, an den Innovationen, die im Weltmarkt stattfinden, orientiert, dann ist es ungeheuer schwer, auf den fahrenden Zug der Globalisierung zu springen. Und das ist von allen Akteuren, praktisch von allen, massiv unterschätzt worden. Es war ein bisschen so eine typisch deutsche technische Betrachtungsweise: Wir stellen eine neue Infrastruktur hin. Wir helfen denen dabei, einen neuen modernen Kapitalstock aufzubauen. Wir bilden die Arbeitskräfte ein bisschen à jour mit den neuesten Techniken aus, machen sie damit vertraut. Und dann wird das schon laufen. - Das ist eben nicht der Fall. Das ist übrigens nicht nur in Ostdeutschland nicht der Fall, sondern es ist auch in den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern nicht der Fall. Selbst ein Land wie Tschechien, das eine stolze industrielle Tradition hat, hat ungeheure Schwierigkeiten, wieder daran anzuknüpfen. Das ist der eigentlich schwierige Teil des sogenannten Transformationsprozesses und nicht der physische.

Maike Albath: Klaus Schroeder, Sie sagten gerade, es sei alternativlos gewesen. Also, man hätte damals auch gar nichts anderes machen können, als diese verschiedenen Formen, die in Westdeutschland sozialpolitisch und wirtschaftspolitisch schon existierten, zu übertragen. Bleiben wir noch einen Moment bei dieser Alternativlosigkeit, denn das unterscheidet Deutschland ja von den anderen osteuropäischen Ländern. Warum war das so?

Klaus Schroeder: Weil Deutschland ein geteiltes Land war und weil die Bundesrepublik Deutschland die Staatsbürgerschaft aller Deutschen bis zum Schluss anerkannt hat. Das heißt, jeder DDR-Bürger hätte in den Westen gehen können. Hätte man die Löhne zu niedrig gehalten, hätte man die Währung anders umgestellt, hätte man sie abgewertet, wie in der Tschechoslowakei, was ja eigentlich ökonomisch notwendig war, dann wären noch viel mehr gegangen, Millionen wären vielleicht gegangen. Und dann hätte man die Probleme im Westen gehabt. Also musste man einen Weg finden, ein Signal senden: Leute bleibt im Land und versucht dort klar zu kommen. Das war die Ankündigung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Ab sofort ging die Abwanderung zurück. Das heißt, es ist gelungen mit der Ankündigung allein schon, diese Wanderungsprozesse zu stoppen. Und dann musste man natürlich auch diese Ansprüche, die Sehnsüchte nach schnellem Wohlstand befrieden. Hier hat man dann den sozialpolitischen Weg gewählt. Ich hätte mir gewünscht, es wäre mehr über Steuern finanziert worden und es wäre auch stärker investiert worden, man hätte die soziale Angleichung etwas länger gestreckt. Aber das ging dann auch nicht. Dann hätte es wieder Demonstrationen gegeben. Wir hatten das ja schon bei der Diskussion um die Währungsumstellung, wo gesagt wurde: Wenn nicht 1:1 umgestellt wird bei den Löhnen und Renten, dann gehen wir eben in den Westen.

Das waren Probleme. Die Politik musste schnell reagieren, das kommt auch noch hinzu. Sie hatte ja gar keine Zeit zum Nachdenken. Und gemessen daran hat die Politik erstaunlich wenig Fehler gemacht.

Maike Albath: Auch zur Währungsunion, zu diesem Umtausch 1:1 gab es keine Alternative, Karl-Heinz Paqué?

Karl-Heinz Paqué: Aus meiner Sicht gab es überhaupt keine Alternative. Durch den 1:1-Umtausch startete man bei einem Lohnniveau von einem Drittel. Und selbst dies war auf die Dauer nicht zu halten bei der hohen Neigung zur Mobilität, die nun einmal da war. Diese Mobilität war eine Realität, vor allem der Leistungsträger. Wenn man das Ausbluten Ostdeutschlands verhindern wollte, musste man diesen Weg gehen.

Interessanterweise - das beschreibe ich auch in meinem Buch - hat das keineswegs zur Angleichung der Lohnniveaus zwischen West und Ost geführt. Wir sind ja jetzt noch, was die Industrielöhne betrifft, etwa ein Drittel niedriger im Osten. Also, insofern hat sich das später vor allem durch die Erosion des Flächentarifvertrags in Ostdeutschland ein stückweit auch zurechtgerückt. Aber das klare Signal musste relativ früh erfolgen. Da gab es keine Alternative.

Klaus Schroeder: Hier bin ich bisschen anderer Meinung. Diese Lohnangleichung passierte ja in den ersten fünf Jahren im Wesentlichen. Seitdem ist es ungefähr konstant geblieben. Da gibt es nur noch kleine Prozesse. Man hätte vielleicht, Sie erwähnen es ja auch in Ihrem Buch, Lohnkostensubventionen einführen sollen, jedenfalls die schnellen Lohnerhöhungen parallel oder ergänzend zur 1:1-Umstellung haben schon die Startschwierigkeiten der Betriebe sehr verschärft - ohne Frage. Ich stimme hier eher mit Hans-Werner Sinn überein, dass diese schnellen Lohnerhöhungen anders hätten kompensiert werden können und müssen. Dann hätte man 1995 schon 70 Prozent erreicht, sondern vielleicht erst 60 und hätte 10, 15 Prozentpunkte Lohnsubvention getätigt. Das wäre vielleicht für die Betriebe sinnvoller gewesen. Denn dadurch wurden Sie sozusagen noch mal zurückgeworfen.

Hier war die Politik auch sehr fantasielos. Man hätte vielleicht auch eine Sonderwirtschaftszone einrichten können. Also, gewisse Dinge, die ja diskutiert wurden, wurden alle ad acta gelegt, weil - und das ist dann der Fehler Politik - man glaubte, man stellt neue Maschinen hin, man gibt ein paar Subventionen und schon läuft das von alleine. Diesen immer viel beschworene sich selbst tragende Aufschwung Ost, der bis heute nicht eingetroffen ist, hat man falsch eingeschätzt. Man hätte sozusagen die Zählebigkeit des Transformationsprozesses stärker berücksichtigen können - müssen vielleicht nicht, weil es ja keine historischen Erfahrungen damit gab.

Karl-Heinz Paqué: Ich glaube, das ist ein gradueller Unterschied, wenn man die Lohnentwicklung damals sieht. Der zentrale Punkt, den ich im Buch hervorhebe, ist natürlich, dass im Zuge des Privatisierungsprozesses der Treuhandanstalt das, was auf Treuhandniveau an Löhnen ausgehandelt wurde, überhaupt keinen Bestand hatte. Es gab anschließend ja eine Verbandsflucht der privatisierten Unternehmen, so dass dann einfach Löhne auf betrieblicher Ebene ausgehandelt wurden und auch von den Arbeitskräften in Kauf genommen wurden, die keineswegs Westniveau hatten. Insofern glaube ich nicht, dass hier ein schwerwiegender Rückschlag für die ostdeutsche Industrie war. Das Problem war einfach ohnehin absolut dramatisch, und ich zeige es ja in dem Buch, dass wir 1992 praktisch keine Industrieproduktion mehr in Ostdeutschland hatten. Die Region war deindustrialisiert. Das hat es in einem Industrieland - glaube ich - in dieser Form noch nie gegeben.

Maike Albath: Karl-Heinz Paqué, in Ihrem Buch geht es ja auch um die Treuhand, Sie erwähnten Sie gerade, als einer zentralen Institution. Klaus Schroeder, sind Sie denn mit der eigentlich doch insgesamt sehr positiven Beurteilung der Arbeit der Treuhand, die Karl-Heinz Paqué darlegt, einverstanden?

Klaus Schroeder: Auch hier stellt sich die Frage der Alternative. Das wird von Paqué sehr gut beschrieben, dass die Alternative - eine Sanierung, Subventionierung - nur zu Folgekosten geführt hätte und keine besseren Ergebnisse gezeitigt hätte. Insofern glaube ich auch, dass die Treuhand, die ja die undankbare Aufgabe hatte, als Prellbock für die Regierung tätig zu sein - und es mussten aufgrund der Produktionsschwäche der DDR-Wirtschaft eben ein Drittel bis zur Hälfte der Arbeitsplätze abgebaut werden -, das zum Teil brachial gemacht hat. Sie hat es aber auch erfolgreich gemacht und viel besser, als ihr unterstellt wird. Selbst der Bereich der Wirtschaftskriminalität, der ja auch in dem Buch erwähnt wird, ist nicht deutlich höher als in normalen Zeiten. So bedauernswert das sein mag, es gibt Einzelfälle, die skandalös waren und bleiben, wo auch Westfirmen Ostfirmen, um mal den Jargon aufzugreifen, der in Ostdeutschland hier eine Rolle spielt, "platt gemacht" haben. Das gibt es und gab es, aber das ist nicht die Regel gewesen. Die Regel war, dass die Treuhand sehr viele Arbeitsplätze auf Dauer stabilisiert hat mit sehr hohen Kosten. Sie hat ja die Altschulden zum Teil übernommen von fast allen Betrieben. Deshalb hat sie ein Minus gemacht, ein sehr hohes Milliardenminus.

Aber auch hier: Was hätte man machen sollen? Hätte man die Staatsbetriebe weiterführen sollen? Dann würden wir heute noch subventionieren.

Maike Albath: Ein Bereich, Herr Paqué, den Sie auch erwähnen, ein Wirtschaftszweig, der dann gerade im Zuge dieser ganzen Veränderungen sehr geboomt hat, war der Bau. Es gab da ungeheure Zuwächse an Aufträgen. Das ganze Land hat sich vollkommen verändert. Wer das in den 20 Jahren miterlebt hat, kann sich auf Schritt und Tritt dessen gerade in Berlin immer wieder gewahr werden. Aber da sind doch auch viele Fehler passiert. Denn man sieht heute Bürogebäude, die leer stehen, sogenannte "Abschreibungsprojekte" waren das. Sind da nicht doch auch Dinge unterlaufen, die nicht hätten passieren dürfen?

Karl-Heinz Paqué: Also, im Nachhinein kann man natürlich immer sehr genau erkennen, wo etwas falsch gesteuert wurde, wo man zu weit ging oder wo man zu wenig tat.

Bei der Bauwirtschaft ist natürlich, wenn man die Entwicklung im Nachhinein kennt, völlig klar, dass zu viel Leerstände entstanden sind. Wenn man sich aber die Entwicklung in den 90er-Jahren genau ansieht, wird man ja feststellen, dass auch die Politik in dem Augenblick, wo sich das zeigte, relativ schnell gegengesteuert hat und die Förderung stärker auf das verarbeitende Gewerbe konzentriert hat.

Auf der anderen Seite ist es auch so, dass in der Frühphase natürlich die schnelle Renovierung des Baubestandes auch psychologisch von ungeheurer Bedeutung war, denn die Städte waren in einem absolut nicht lebenswerten Zustand. Und nur wenige Kilometer entfernt im Westen waren Städte, die diesen lebenswerten Zustand hatten, wo man hinwandern konnte. Also, ich glaube, auch da waren die Möglichkeiten der Politik beschränkt. Aber in der Tat kann man natürlich sagen, dass des Guten zu viel getan wurde. Das ist an den Leerständen ablesbar.

Klaus Schroeder: Aber das weiß man erst im Nachhinein. Es gab ja im DDR-Volksmund den Spruch "Ruinen schaffen ohne Waffen". In der Tat war es ja in vielen Innenstädten der DDR so. Und ohne Steueranreize hätte kaum einer investiert. Da die Deutschen ja dazu neigen, wenn sie auch nur einen Pfennig Steuern sparen, sofort in diese Objekte einzusteigen, haben sich viele eine blutige Nase geholt. Viele Zahnärzte und andere Freiberufler dachten, auf die Schnelle Steuern sparen zu können. Die mussten dann miterleben, ebenso wie Banken, die viele Milliarden investiert haben, dass es Fehlinvestitionen waren. Also, hier hat die Gier nach Steuererleichterungen zu kontraproduktiven Ergebnissen geführt.

Maike Albath: Wie steht es dann insgesamt mit Ihrer Bilanz? Wir haben das jetzt im Gespräch immer umrissen, aber wenn Sie sich den gesamten Prozess noch einmal vor Augen führen, Karl-Heinz Paqué, Sie wirken doch eigentlich sehr zufrieden in diesem Buch, wenn ich das so etwas oberflächlich zusammenfassen darf. Können Sie uns noch einmal ganz kurz darlegen, welches Ihre Prognose auch für die nächsten Jahre ist und welches die große Leistung ist. Darum geht es Ihnen ja auch. Sie wollen unterstreichen, was geglückt ist.

Karl-Heinz Paqué: Die große Leistung ist, dass die deutsche Politik, und zwar nicht nur die Außenpolitik, also die deutsche Einheit als politischer Prozess, sondern auch im Wesentlichen die Wirtschaftspolitik in einer historisch völlig einmaligen Situation - da hatte man keine Beispiele vorher und man wird sie übrigens auch nachher nicht mehr bekommen - mit extremer Mobilitätsbereitschaft der Menschen schnell, entschlossen und im Wesentlichen nicht falsch reagierte. Das ist eine ungeheure politische Leistung.

Das heißt aber nicht, dass ich - längerfristig in die Zukunft blickend - extrem optimistisch bin für Ostdeutschland. Ich sage in dem Buch ganz klar: Der Flurschaden des Sozialismus, das, was an unternehmerischer Innovationskraft verloren gegangen ist, vor allem im mitteldeutschen Raum und übrigens auch im Großraum Berlin, hier sind Spuren der Zerstörung von Innovationskraft hinterlassen worden, wird Generationen dauern. Da ist es natürlich durchaus ein etwas skeptischerer Blick. Ich glaube, mit der Flexibilität, die wir in vielerlei Hinsicht im Osten erreicht haben, mit der Universitätslandschaft, die ja auch hilft, moderne Agglomerationen wieder zu schaffen - wir sehen es ja auch in einigen Bereichen, Mikroelektronik in Dresden, Photovoltaik in Bitterfeld, in Jena sehen wir die optische Industrie wieder, es tut sich ja etwas, aber das hat beileibe noch nicht die Dichte und Produktivkraft erreicht, wie die Ballungen in München und Stuttgart. Das ist das Skeptische. Das ist eigentlich auch eine zentrale Botschaft des Buches. Wir haben diesen Aspekt, die langfristige Wirkung der Abschottung, völlig unterschätzt. Insofern ist es kein simpler Optimismus und ein simples Schulterklopfen, was ich hier für die Politik mache - so verstehe ich es jedenfalls nicht -, sondern eine schwierige historische Situation ist einigermaßen gemeistert worden, aber die langfristigen Folgen sind noch sehr tief und schwer zu beseitigen.

Maike Albath: Die Arbeitslosigkeit ist immer noch sehr hoch. Und ein großes Problem ist die Abwanderung der ganz jungen Leute, die entweder in diese Industriezentren gehen oder gleich in die westdeutschen Städte abwandern. Wie sehen Sie das, Klaus Schroeder? Was bleibt zu tun nach dieser Bilanzierung von Karl-Heinz Paqué?

Klaus Schroeder: Dicke Bretter bohren, zukunftsträchtige Industrien ansiedeln, die fördern. Zum Beispiel im Solarbereich ist es ja schon geschehen, in Sachsen-Anhalt zum Beispiel. Andererseits das Ganze ein bisschen gelassener sehen. Den Prozess der Wanderung aus der Provinz, aus Dörfern, aus kleinen Städten in Großstädte gab es ja über die Jahrzehnte in der Bundesrepublik auch. Das hat sich hier binnen kürzester Frist vollzogen, weil die zentralistische Planwirtschaft ja auch keine Rücksicht auf solche Prozesse nehmen musste und Wanderungsbewegungen nicht unterstützt hat, Mobilität nicht unterstützt hat. Insofern denke ich, dass sich hier neue Zentren herausbilden werden, dass aber gleichzeitig bei den Herausforderungen, die wir in Deutschland haben, Ost und West viel stärker zusammenrücken werden. Gleichzeitig werden die Transfers in der Höhe von etwa 100 Milliarden Euro jährlich fortbestehen, damit das Wohlstandsniveau im Osten nicht abbröckelt. Und wenn erst mal Vertrauen und Zuversicht da ist, dann kann der Osten genauso genesen, wie beispielsweise der Süden des alten Westens irgendwann mal den Norden überholt hat in den 70er-Jahren - zu meinem Bedauern als Norddeutscher im Übrigen. Aber es gibt solche Prozesse. Und ich bin nicht so pessimistisch.

Der entscheidende Punkt ist für mich auch die Mentalität der Akteure, der Leute. Die Zerstörung des Unternehmertums, die Vertreibung des Bürgertums durch die SED haben hier einen Flurschaden angerichtet, den man wahrscheinlich erst in 10, 20 Jahren durch neue junge Leute beheben wird. Die Mentalität, etwas leisten zu wollen, Risiko einzugehen, alles das muss neu entwickelt und kultiviert werden. Aber da bin ich optimistisch.

Maike Albath: Wir sprachen über Karl-Heinz Paqués neues Buch "Die Bilanz - eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit", erschienen im Hanser Verlag. Und jetzt haben wir noch Zeit für eine Buchempfehlung. Karl-Heinz Paqué, was möchten Sie unseren Hörern ans Herz legen?

Karl-Heinz Paqué: Von Monika Maron den "Bitterfelder Bogen". Da sind wir sehr nah an dem Thema, was wir eben besprochen haben. Es geht darum, dass eine Region, die noch 1990 geradezu als schlimmstes ökologisches Notstandsgebiet angesehen wurde, und zu Recht angesehen wurde, sich inzwischen zu einem neuen Industriezentrum für eine moderne Industrie entwickelt hat. Das schildert Monika Maron in einer ganz merkwürdigen und für mich außerordentlich beeindruckenden Mischung aus Nüchternheit, geradezu penetrantem gesunden Menschenverstand auf der einen Seite, und auf der anderen Seite auch einer großen Liebe zu der Region und zu dem Schicksal der Menschen - nichts von intellektueller Arroganz des Betrachters, sondern sehr viel Einfühlungsvermögen.

Maike Albath: Klaus Schroeder, Ihre Empfehlung?

Klaus Schroeder: Meine Empfehlung ist Leon de Winter: "Das Recht auf Rückkehr", ein Buch, was eindrucksvoll geschrieben ist, beklemmend zum Teil im Szenario ist. Es wird eine mögliche Entwicklung Israels in den nächsten Jahrzehnten geschildert, die Flucht junger Leute aus Israel, das Bleiben Älterer, die wiederum eingekesselt sind, weiterhin bedroht werden von der arabischen Welt und auch von Islamisten. Das Buch ist so dicht und eng geschrieben und fesselt den Leser in einer Weise, wie ich es selten erlebt habe. Ich kann nur jedem empfehlen, der sich mit Israel, dem Nahen Osten und möglichen Szenarien beschäftigt, das Buch zu lesen.

Maike Albath: Das ist im Diogenes Verlag erschienen. Und die Empfehlung von Karl-Heinz Paqué, Monika Maron, liegt im Fischer Verlag vor. Ich bedanke mich herzlich bei meinen Gesprächspartnern Karl-Heinz Paqué und Klaus Schroeder für die Diskussion über die deutsche Einheit, das, was passiert ist, und das, was noch zu tun bleibt. Am Mikrophon verabschiedet sich Maike Albath.
Gerhard A. Ritter: "Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk! - Geschichte der deutschen Einigung" (Cover)
Gerhard A. Ritter: "Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk! - Geschichte der deutschen Einigung" (Cover)© C.H.Beck Verlag
Karl-Heinz Paqué: Die Bilanz (Coverausschnitt)
Karl-Heinz Paqué: Die Bilanz (Coverausschnitt)© Hanser Verlag