"Das ist die einzige rundum positive Identifikationsfigur"

Dominic Johnson im Gespräch mit Holger Hettinger · 02.07.2010
Dass Patrice Lumumba den Mut hatte, "sich hinzustellen und dem belgischen König ins Gesicht zu sagen, was alle Kongolesen dachten, das macht ihn bis heute zum Helden", sagt Dominic Johnson, Autor des Buches "Kongo. Kriege, Korruption und die Kunst des Überlebens" über den ersten kongolesischen Premierminister nach der Unabhängigkeit von Belgien. Dieser wurde heute vor 85 Jahren geboren.
Holger Hettinger: Heute vor 85 Jahren wurde Patrice Lumumba geboren. Er war der erste kongolesische Premierminister, nachdem die Belgier das Land in die Unabhängigkeit entlassen hat. Das war im Jahr 1960. Die Aufbruchstimmung wehrte nur kurz, nur sechs Monate nach den Unabhängigkeitsfeierlichkeiten wurde Lumumba aus dem Amt geputscht und ermordet. Welche Rolle hat Lumumba bei der Unabhängigkeit gespielt und welchen Blick hat man im Kongo heute auf ihn? Das frage ich gleich Dominic Johnson. Er ist Auslandsredakteur der "taz" und Autor eines Buch über den Kongo. Zuvor ein Porträt Lumumbas von Wim Dohrenbusch.

Wim Dohrenbusch über Patrice Lumumba, den ersten Ministerpräsidenten des Kongo. Heute vor 85 Jahren wurde er geboren. Hier im Studio ist nun Dominic Johnson. Er ist Auslandsredakteur der "taz" und Autor des Buches "Kongo. Kriege, Korruption und die Kunst des Überlebens". Schönen guten Morgen!

Dominic Johnson: Guten Morgen!

Hettinger: Herr Johnson, vor drei Tagen wurde im Kongo der 50. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes gefeiert – welche Rolle hat die Erinnerung an Lumumba im Umfeld dieser Feiern gespielt?

Johnson: Seltsamerweise ganz wenig. Es ging dem Präsidenten heute, Joseph Kabila, eher darum, sich selbst in Szene zu setzen als ebenbürtiger Partner der Belgier. Es ist ja das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ein belgischer König wieder nach Kinshasa gekommen war, und Kabila wollte sich mit König Albert auf eine Stufe stellen – ganz bewusst anders als vor 50 Jahren, als es diese Konfrontationen gab zwischen Lumumba und dem König, die wir eben gehört haben. Diesmal gab es keine Konfrontation, beide waren zusammen, der belgische König hat nicht mal eine eigene Rede gehalten, Kabila hat die Rede gehalten – und was sehr interessant war: In seiner Rede kommt Lumumba nur ganz am Rande vor. Kabila macht eine Aufstellung all jener Kongolesen, die die Väter des neuen Staates sind. Da kommen erst eine ganze Menge andere Leute, und dann kommen die Väter der Unabhängigkeit. Da nennt er sieben Menschen, Lumumba an erster Stelle, dann Kasavubu, den damaligen Präsidenten, und dann mehrere Politiker, die direkt an Lumumbas Ermordung beteiligt waren. Und sie alle gruppiert er unter diesem Motto Väter der Unabhängigkeit, denen er dankt dafür, dass sie das Land aufgebaut haben. Das heißt, er distanziert sich ganz bewusst von diesem Lumumba-Erbe. Das war schon erstaunlich.

Hettinger: Steht Kabila damit alleine, mit dieser distanzierten Position, oder gibt es tatsächlich so etwas wie, ja, ein fehlendes Gedenken?

Johnson: Na ja, für die Kongolesen ist Lumumba ja nach wie vor sehr wichtig. Das ist die einzige positive, rundum positive Identifikationsfigur, die sie alle haben und die sie bis heute alle verehren, gerade wegen der Rede am 30. Juni 1960. Er hat ja nachher nicht regieren können. Es war nur diese eine Rede. Dass er den Mut hat, sich hinzustellen und dem belgischen König ins Gesicht zu sagen, was alle Kongolesen dachten, das macht ihn bis heute zum Helden. Aber das ist ein Auftritt, das war keine Politik. Das heißt, es gibt keine Lumumba-Politik, an der man sich orientieren kann, mit der man sich identifizieren kann. Es gibt einen Gestus, einen Auftritt, einen Stolz – das ist das, was die Kongolesen an Lumumba heute noch schätzen.

Hettinger: Lumumba hat ja durch seine Ermordung eine Art, ja, überlebensgroße Statur bekommen. Jean-Paul Sartre hat gesagt, seit Lumumba tot ist, hört er auf, eine Person zu sein, er wird zu ganz Afrika. Nun haben Sie ja eben erklärt, dass er so etwas wie ein politisches Profil nicht hatte, nicht haben konnte, gibt es dennoch Leitlinien aus seiner Zeit als Freiheitskämpfer, als Aktivist, die darauf schließen lassen, was diese Leitlinien hätten sein können?

Johnson: In zeitgenössischen Schilderungen wird das gar nicht so deutlich, da rätseln die Leute eher, was er denkt, und weisen darauf hin, dass er mal das eine sagt und dann wieder das Gegenteil. Noch 1956 hat er dafür plädiert, dass die Kongolesen sich an den Belgiern orientieren sollten, mit Belgien Freundschaft schließen sollten in der Unabhängigkeit. Zwei Jahre später hat er das völlig widerrufen und hat gesagt, wir müssen unseren eigenen Weg zur Unabhängigkeit gehen. Und Leute, die ihn damals getroffen haben und über ihn berichtet haben damals, haben gesagt, sein Held, der war Kwame Nkrumah, der Führer des unabhängigen Ghana. Ghana wurde ja 1957 unabhängig. Und es ist der Satz überliefert von Lumumba in Bezug auf Nkrumah: Ein junger Staat braucht eine starke und sichtbare Macht. Und wenn es etwas gibt, was Lumumba immer verfolgt hat, dann zu sagen, der Kongo braucht als unabhängiger Staat eine starke Staatsmacht, um ihn weiterzuführen, denn wir haben noch nicht die politische Klasse, die ökonomische Klasse, die intellektuelle Klasse, um das Land wirklich zu führen, wir brauchen eine zentrale Regierung, die das überbrückt – und diese zentrale Regierung bin ich.

Hettinger: Deutliche Worte eigentlich. Der Kolonialismuskritiker Frantz Fanon hat die Herrscher der unabhängigen afrikanischen Staaten einmal auf eine Formel gebracht – schwarze Haut in weißen Masken –, also ein ziemlich direkter Hinweis darauf, dass sich der Herrschaftsstil der neuen Machthaber in wenig unterschied von dem der kolonialen Besatzer. Dadurch dass Lumumba ja eher eine, sozusagen eine politische Ikone, eine Chiffre ist denn ein Mensch mit einem, ja, mit einem politischen Erbe, sind wir hier im Bereich der Spekulation, aber wäre das auch bei Lumumba eine Gefahr gewesen?

Johnson: Das war sicher eine Gefahr, es wäre garantiert so gekommen, weil es gar keine andere Möglichkeit gab. Man darf ja nicht vergessen, die Unabhängigkeit des Kongo war überhaupt nicht vorbereitet. Noch ein paar Jahre vorher dachten die Belgier, wir machen das innerhalb von 30 Jahren, und es wurde da schon als viel zu schnell diskutiert in Brüssel. Und dann plötzlich haben die Belgier alles stehen und liegen gelassen und sind gegangen und haben den Kongolesen gesagt, macht ihr mal weiter. Wenn man sich jetzt überlegt, wie es wäre, wenn die ganze Radiobelegschaft nach Hause geht und hofft, dass irgendwelche Hörer kommen und das weitermachen, die noch nie gelernt haben, wie man das macht, dann kann man sich vorstellen, was das für ein Ergebnis war. Es funktionierte nichts mehr und es konnte auch nichts mehr funktionieren, und Lumumbas wichtigstes kurzfristiges Ziel war, eine Armee aufzubauen, eine eigene afrikanische Armee. Er hat Mobutu zum Generalstabschef gemacht, um eine neue Armee aufzubauen. Dass genau dieser Mobutu dann gegen ihn putschen würde und ihn letztendlich umbringen lassen würde, konnte er noch gar nicht wissen. Es ist aber ziemlich klar, dass wenn er regiert hätte, wenn er an der Macht geblieben wäre, hätte er eine Art von Entwicklungsdiktatur errichten müssen, um überhaupt diesen Staat aufzubauen.

Hettinger: Also so etwas wie Eliten, die diese Struktur, die diese neue errichtete Verwaltung in irgendeiner Weise hätten erfüllend tragen können, die gab es nicht?

Johnson: Es gab gerade mal 14 Universitätsabsolventen im ganzen Land, das heißt, alle Betriebe, alle Ministerien konnten gar nicht geführt werden in einer kompetenten Weise. Es gab Soldaten, die aber auch nicht so gut ausgebildet waren. Das heißt, es gab diese Eliten nicht, und man hätte das durch ein dirigistischen Regierungsstil kompensieren müssen.

Hettinger: Der Zugriff auf Lumumba wurde ja damit begründet, das sei - als er in schwierigen Zeiten bei den Sowjets, bei Moskau um Unterstützung nachgesucht habe im Kalten Krieg - mit Sicherheit eine delikate Angelegenheit. Wie bewerten Sie diese Intervention, dieses Hilfeersuchen an Moskau? War Lumumba ein Kommunist?

Johnson: Nein, war er natürlich nicht. Er hat einfach Hilfe gesucht und er hat sie dort gefunden, aber er hätte sie auch von woanders genommen. Er hat vor dem Osten den Westen um Hilfe gebeten gegen den Putsch gegen ihn, hat sie nicht bekommen, die UNO hat eingegriffen, aber nicht auf seiner Seite, wie er sich es erhofft hatte. Er hat dann einfach relativ wahllos das Erstbeste genommen, was er kriegen konnte. Natürlich dadurch kam er in das Lager, aber es entsprach keiner politischen Überzeugung.

Hettinger: In einem Artikel, in dem es unter anderem über den Kongo geht, da haben Sie geschrieben, dass die Herausforderung bei der Friedenssicherung in bestimmten Regionen darin liegt, den Frieden interessanter zu gestalten als den Krieg. Wie meinen Sie das?

Johnson: Na ja, in der Geschichte des Kongo, gerade seit der Unabhängigkeit, ist es ja so, dass wer die Macht hatte und wer die Waffen hatte, konnte sich nehmen, was er wollte. Macht zu haben heißt, über dem Gesetz zu stehen und die anderen zu behandeln, wie man will, sich zu nehmen, was man will, sich die Reichtümer anzueignen. Solange es keine andere Ordnung gibt, keine rechtsstaatliche Ordnung, in der Gesetze gelten, in der die Verfassung gilt, wird es immer attraktiv sein für jemanden zu sagen, ich greife mir auch eine Waffe und mache das auch, und entweder ich bin dann ein Rebell und mache das sozusagen auf kleinem Niveau oder ich kämpfe mich sogar an die Staatsmacht, und als Präsident habe ich dann das ganze Land. Dieses Staatsverständnis, was nicht Lumumbas Staatsverständnis war, ist das, was durch den Zerfall des Staates nach seinem Tod gekommen ist, das ist bis heute noch sehr tief verwurzelt in der Erfahrung der Kongolesen.

Hettinger: Schönen Dank! Das war Dominic Johnson, Auslandsredakteur der "taz" und Autor des Buches "Kongo. Kriege, Korruption und die Kunst des Überlebens". Heute vor 85 Jahren wurde Patrice Lumumba geboren.