Das Ich als Konstruktion

11.09.2009
"Wir leben in einer Welt, die wir uns selbst einbilden", ahnte bereits Gottfried Herder im 18. Jahrhundert. Richard Powers erzählt in "Das Echo der Erinnerung", wieso Herder recht hatte. Nun liegt der Roman auch als Hörbuch vor.
Das Gehirn ist wie ein unentdecktes Land aus in Jahrtausenden allmählich gewachsenen Abschnitten, die bislang von den Wissenschaftlern erst teilweise kartiert wurden. Das Gehirn ist der unsichtbare Regent und Autor der Geschichte, die wir uns über unser Leben erzählen. Dabei gaukelt unser Geist vor, es gäbe einen Zusammenhang, der unsere Erfahrungen zu einer großen biografischen Geschichte verbindet. Er tut dies, um unser Selbst vor einem Absturz in die Sinnlosigkeit zu bewahren. Die entsetzliche Entdeckung der Neurologen ist: Das Gehirn ist ein Fabulierer, dem an einer stimmigen Geschichte mehr liegt als an der Wahrheit.

"Arzt: 22. Februar 2002, weiß, männlich , 27, 1,76, 72 Kilo."

Mark Schluter liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Nach einem Unfall auf einer gewöhnlich völlig leeren, schnurgeraden Autobahn im amerikanischen Bundesstaat Iowa kam der 27-jährige Truckfahrer von der Fahrbahn ab. Sein Laster überschlug sich. Als er ins Krankenhaus kommt, hat er das Gedächtnis verloren, sowie die Sprache und die Fähigkeit, Bekannte wiederzuerkennen.

"Mark: Halten Sie sich etwa für meine Schwester?
Arzt: Ihr Bruder leidet an dem Capgras Syndrom.
Mark: Wenn Sie sich für meine Schwester halten, sind Sie nicht ganz richtig im... Kopf.
Eins aus einer ganzen Gruppe von Wahnsyndromen mit Personenverkennung. ... Ich kenne nur einige wenige Fälle in der Fachliteratur.
Wieso macht er es?
Auf eine schwer fassbare Weise passen Sie nicht zu dem Bild, was er von Ihnen hat. Der Teil des Gehirns, der Gesichter erkennt, ist intakt. Ebenso das Gedächtnis. Aber der Teil, der die emotionalen Verbindungen herstellt, ist irgendwie abgekoppelt. Capgras Patienten verkennen fast immer diejenigen, die sie lieben."

Wie in der musikalischen Polyphonie und als Ausdruck des Chaos', das Marks Gehirn ergriffen hat, überlagern sich in dem Hörspiel "Das Echo der Erinnerung" die Erzählstränge und -perspektiven. Aber im Wesentlichen sind es drei: der Kampf der Neurologen um die Heilung Marks. Die unablässigen Versuche von Marks Schwester, wieder Zugang zu ihrem Bruder zu finden. Und die Perspektive der Kraniche, die jedes Jahr zu Tausenden bei ihrem Wanderflug über die Erde, in Iowa Rast machen. Powers nutzt sie als Beispiel für unerschütterliche Erinnerungsfähigkeit.

"Die ältesten Flugtiere der Erde, Kraniche, eine halbe Million, an diesem wenige Meilen langen Ufer, wo der Fluss noch sauber und breit genug ist, dass er ihnen Sicherheit bietet. Kalter Nachtdunst. Raureif überzieht die Stoppelfelder des Herbstes. Ihr innerer Kompass lässt sie einer Route folgen, die schon Jahrhunderte alt ist. Tausende Meilen, ehe sie ihre in der Erinnerung eingeprägten Nistplätze erreichen."

"Das Echo der Erinnerung" ist ein schillerndes, vielstimmiges Hörspiel, das zwar die 533 Seiten des Romans aufs Wesentliche eindampft, andererseits dem Hörer aber auch eine höhere Konzentration und einen noch unbedingteren Wunsch, zu verstehen, abverlangt. Schon das Buch ist nicht einfach zu lesen, denn es ist mehr als ein Roman. Es ist ein wissenschaftlich-philosophisches Werk, in dessen Zentrum die Frage steht "Wie konstruiert der Mensch sein 'Ich' und sein Bild von der Umwelt?". Daran arbeiten Koryphäen der Gehirnforschung wie Eric Kandel und Wolf Singer. Richard Powers will, dass wir zu ihrem Kenntnisstand aufschließen.

"Ich denke, das ist die wichtige Aufgabe der Schriftsteller heute, einen gründlichen Blick darauf zu werfen, wie Menschen durch die Technologien Zeit und Raum verändert haben und dabei zu helfen, dass die menschliche Psyche mit diesen Entwicklungen Schritt halten kann. Genau das ist meines Erachtens der Sinn von Literatur, zu helfen, dass der Mensch seinen technischen Fortschritt aufholt."

Der 52-jährige Amerikaner, der für "Das Echo der Erinnerung", seinen neunten Roman, den wichtigsten amerikanischen Literaturpreis erhielt, den National Book Award for Fiction, hat fast ausschließlich Bücher geschrieben, die das mit Ängsten, aber auch falschen Hoffnungen oder Omnipotenzsehnsüchten aufgeladene Verhältnis zwischen Mensch und Technik thematisieren. Romane beispielsweise über virtuelle Realität, Atomphysik oder künstliche Intelligenz. Sein nächstes, im September erscheinendes Werk, "Das größere Glück" handelt von der Arbeit der Genomiker am Designermenschen, die kurz vor einem Durchbruch steht, und einer Gesellschaft, die auf solche Entwicklungen überhaupt nicht vorbereitet ist.

"Das Echo der Erinnerung" ist ein Roman, den man am liebsten mit einem Helm auf dem Kopf lesen würde, schrieb ein amerikanischer Rezensent. Das ist bei dem Hörspiel nicht anders. "Das Echo der Erinnerung" zu hören gleicht einer unbehaglichen Expedition in das fragile Konstrukt des Ich, aus der wir immerhin mit einer Gewissheit hervorgehen: Der Mensch braucht Literatur. Denn alle Selbstfindung ist poetisch.

Besprochen von Brigitte Neumann

Richard Powers: Das Echo der Erinnerung
Hörspiel, 2 CDs
Der Hörverlag 2009
Laufzeit circa 2 Stunden, 19,95 Euro