Das Grundgesetz als Kunstobjekt

Von Margarete Limberg · 22.11.2005
Nach Musik und Bildender Kunst hat sich der Film des Grundgesetzes angenommen. In dem Projekt "G 19" sollen alle 19 Grundrechtsartikel in kurzen Episoden dargestellt werden. Dabei sind alle Genres wie Komödie, Tragödie oder Science-fiction vertreten.
Es regnet in Strömen, vor dem Reichstag steht eine gepflegte ältere Dame und hält ein offenbar selbst gefertigtes Plakat hoch: "Mehr Platz für Hühner" steht drauf – eine Ein-Frauen-Demo. In Wirklichkeit wird hier ein Film gedreht und zwar über ein Sujet, das gar nicht filmisch umsetzbar scheint: Es geht um den Artikel 8 des Grundgesetzes, dessen erster Absatz so lautet: "Jeder Deutsche hat das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln."

Diese Episode ist Teil des außergewöhnlichen Projekts "G 19". Alle 19 Grundrechtsartikel sollen in höchstens zehn Minuten langen Episoden verfilmt werden. Die Idee ist vor einigen Jahren entstanden, und sie begeisterte schnell den jungen Produzenten Harald Siebler. Nach nächtlicher Lektüre des Grundgesetzes war er zwar begeistert, musste aber auch einräumen, dass seine Kenntnisse lückenhaft waren:

" Und dann habe ich gemerkt, das ist so ähnlich wie bei den zehn Geboten. Man kennt ein paar, man kennt nicht alle. Und Demokratie ist doch umfassender, um da ein Bewusstsein für zu haben, muss man seine Grundrechte, die Gesetze und die Artikel kennen, auf denen diese Demokratie basiert, damit man seine Rechte und Pflichten begreifen kann."

Der Artikel 8 ist der einzige, der in Berlin gedreht wurde, weil man nur hier vor dem Reichstag demonstrieren kann. Die Geschichte ist schnell erzählt: Eine alte Frau hat genug vom ewigen Gerede in ihrem Kaffeekränzchen und will endlich etwas tun.

Siebler: " Bei dieser Geschichte, die sich um das Versammlungsrecht dreht, geht es darum, dass aus einer Situation, die wir alle kennen, das ist ein Kaffeekränzchen oder eine Kneipenatmosphäre, eine Stammtischmentalität, wo viel verhandelt, viel geredet, viel besser gewusst wird. Aus der Situation entsteht hier etwas sehr Banales: ein Mensch kommt auf die Idee, nicht nur reden, sondern handeln, nimmt ein Schild, baut ein Schild und stellt sich mit dem Schild als Demonstrant vor den Bundestag, in diesem Falle vor den Reichstag."

Es ist, so könnte man sagen, eine ziemlich schlichte Geschichte einer alten Frau. Wäre etwas Dramatischeres dem Artikel über die Versammlungsfreiheit nicht angemessener? Die Regisseurin Mira Thiel meint nein:

" Es geht eigentlich eher darum, dass sie auf die Straße geht, dass so eine alte Frau, von der alle sagen, ja, das ist sowieso schon
vorbei, eigentlich die Schnauze voll von ihrer Versammlung hat, dem Kaffeekränzchen, und sagt, ich mache jetzt eine neue Versammlung, ich will was ändern."

Wenn man das Grundgesetz verfilme, könne man ja gleich aus dem Telefonbuch einen Kinofilm machen, haben Skeptiker gegen das Projekt eingewandt. Und die Frage, wie man etwas so Abstraktes wie einen Verfassungsartikel verfilmt, ist ja nicht völlig abwegig:

Thiel: " Worauf der Fokus liegen muss bei so was, ist, dass die filmische Umsetzung von so was Abstraktem wie einem Artikel so konkret ist, so an die Figur rangeht, dass es einen irgendwie berührt in so einem Kurzfilm und dass der Artikel letztendlich eigentlich im Hintergrund ist, dass der Artikel erzählt wird durch eine Geschichte, das ist das, was mir wahnsinnig wichtig ist, dass man eine Geschichte sieht, und dann versteht man den Artikel."

Nicht alle Episoden sind so anrührend wie diese, in der sich am Schluss sogar noch zwei alte Menschen nahe kommen. Alle Genres sind vertreten: Komödie und Tragödie, epische Erzählung und Science-fiction. Die Episode zum Artikel 1, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, zeigt mit tiefschwarzer Ironie auf, wie die Menschenwürde in sensationslüsternen Medien immer mehr in den Hintergrund rückt: Mitten in der Nacht stürmt ein Überfallkommando aus schwarz vermummten Gestalten das Haus der Familie Arnold, der Vater wird in einem dunklen Keller menschenunwürdigen Torturen ausgesetzt. Erst am Schluss wird klar, dass sie alle Opfer einer TV-Show sind, der Folterer ist Kandidat in einem Millionenspiel.

Vielfalt prägt nicht nur die Drehbücher, sondern auch die Drehorte, die über die ganze Bundesrepublik verstreut sind. Der Film ist also zugleich eine Reise durch Deutschland auf der Grundlage des Grundgesetzes.

Siebel: " Und diese Vielfalt ein bisschen zu beleuchten, ein Lokalkolorit einzufangen, ein bisschen was davon zu zeigen, auch wieder vollkommen subjektiv, kleine Ausschnitte, aber ein bisschen was davon will das Projekt eben auch. Deswegen haben wir gesagt, wir reisen rum und machen damit mehr, als nur einen Film drehen. Wir reisen rum und machen damit eine Karawane der Demokratie."

19 Städte haben eine Patenschaft für je eine der Episoden übernommen und unterstützen das Projekt so gut sie das angesichts ihrer finanziellen Nöte können. Auch die Mitwirkenden, darunter viele Prominente, helfen. Nikola Mirza, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, erläutert:

" … dass fast alle Beteiligten – und insgesamt werden es 900 sein – mit Rückstellung arbeiten, das heißt, sie kriegen zwar eine Summe, aber erst wenn das Geld erfolgreich finanziert ist oder überhaupt Gewinne macht. Und ohne das geht es überhaupt nicht, sonst könnten wir das Projekt nicht stemmen."

Die fürs Casting zuständige Anja Dihrberg ist von dem Enthusiasmus vieler bekannter Schauspieler begeistert:

" Ich kann sagen, jeder Schauspieler der dabei ist, nachdem ich das Projekt beschrieben habe, ist voller Herzblut und Engagement dabei, auch bei dieser Kälte, Regen und allem."

Obwohl es zahlreiche Unterstützer, auch private Sponsoren, gibt und im Prinzip alle "G 19" für ein großartiges Projekt halten, gab es mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden, wie Harald Siebler erfahren musste.

Siebler: " Der Weg dahin ist sehr steinig, das ist auch interessant, und dann kann man auch ruhig feststellen, dass viele Menschen, die in den Spiegel der Demokratie gucken, wahrscheinlich entsetzt feststellen, dass das, was sie selber tun, mit Demokratie gar nichts oder nur sehr annähernd zu tun hat. Es gibt in Deutschland starke Verdrängungsmechanismen, wenn es darum geht, die Dinge nicht so sehen zu wollen, wie sie sind."

Im nächsten Jahr soll der Episodenfilm in die Kinos kommen, und die Produzenten hoffen, damit die Vielfalt und Kraft der Grundrechte bewusst zu machen und gleichzeitig eine Diskussion über Anspruch und Wirklichkeit zu entzünden.