Das ganze Wissen unter einem Dach

Von Jochen Stöckmann · 06.05.2007
In den reichen Buchbeständen der Franckeschen Stiftungen hat deren Jahresausstellung 2007 ihren Ausgangspunkt. Über die eigenen Bestände hinaus entrollt die Schau ein allgemeines Bibliothekspanorama mit 300 Objekten, unter anderem aus dem Gleimhaus Halberstadt und dem Francisceum in Zerbst, der Anna Amalia Bibliothek Weimar und der Landesbibliothek in Eutin, aus Berlin, Kopenhagen und Stockholm.
Mit einem schlichten Exlibris stellt sich die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen nun schon seit fast 300 Jahren vor: Buchrücken an Buchrücken, ein Regal hinter dem nächsten, dazwischen führt ein schmaler Gang in scheinbar unendliche Weiten. Als Emblem, als schlagend ins Bild gesetztes Manifest aller Büchersammlungen der Aufklärung interpretiert Bodo Baumunk, Gastkurator der "Frühmodernen Bücherwelten", die kleine Bibliotheksmarke des halleschen Waisenhauses:

"Durch diese Anordnung der Bücherregale hintereinander entsteht ein perspektivischer Effekt. Also die Idee einerseits, man könnte noch einmal das ganze Weltwissen einhausen in einen kosmologischen Raum, aber immer im Bewusstsein der Vergeblichkeit und der Unendlichkeit. Diese Unendlichkeit konnte man eben perspektivisch erzeugen."

Angefangen hatte alles mit wenigen Bänden, die der Pädagoge Hermann Francke in einem verschließbaren Schrank aufbewahrte für die "studierende Jugend, als denen es gemeiniglich an guten Büchern fehlet". 1728, als in Halle ein separates Bibliotheksgebäude errichtet wurde, fanden bereits 18.000 Bände Platz in den Regalen.

Um aber in diesem Wissenskosmos die Übersicht nicht zu verlieren, ließ Francke ein Bücherrad hinzustellen, das nun auch den Ausstellungsbesucher in Deutschlands ältestem Bibliothekszweckbau empfängt: Drehbar wie in einem Mühlrad sind sechs Lesepulte angeordnet, auf denen jeweils drei bis vier aufgeschlagene Folianten Platz finden. Sehr anschaulich das Ganze, und im Wortsinne schneller zu "begreifen" als jedes "Icon" auf dem bunten Computerbildschirm:

"Da ist natürlich diese Illusion des 18. Jahrhunderts etwas Freundlicheres als wenn man eine Recherche im Internet startet und dann diese berühmt-berüchtigten 50.000 Einträge bekommt. Das ist ein Punkt, der uns in der Ausstellung sehr wichtig gewesen ist, dass man in der traditionellen alten Bibliothek auf Dinge stößt, die man nicht gesucht hat, weil man diese Zufallsnachbarschaften im Regal findet."

Beim Versuch, alles Wissen dieser Welt unter einem Dach zu vereinigen geriet selbst Voltaire, der gefürchtete Religionskritiker, in die streng pietistische Büchersammlung.

"Man muss zunächst einmal staunen, wie unglaublich komplex und reichhaltig und auch offen die gewesen sind. Was man nicht findet, ist das, was wir so das ‚galante Zeitalter’ nennen. Das wäre natürlich für eine pietistische Bibliothek zuviel verlangt. Hier findet man zwar Bücher, wie man die Perücke macht, aber nicht, wie sie den Menschen ziert. Und man findet Bücher darüber, wie man ein Schloss baut, aber man findet kein Interesse an dem, was darin stattfindet."

Bis auf das "Journal des Luxus und der Moden" sind fast alle Literaturgazetten und Rezensionszeitschriften in Halle vertreten. Und in dem facettenreichen Bibliothekspanorama werden neben diesen Zentralorganen der Aufklärung auch ihre umtriebigen Agenten gewürdigt: Ein Buchhändler ist auf einem Kupferstich von 1698 zu sehen, wie er ein Fass aufmacht. Darin wurden alle Schriften geliefert, ohne jeden Einband. Und weil nicht nur Kleider Leute, sondern auch prächtige Deckel und Rücken ein schönes Buch machen, legten betuchte Sammler großen Wert auf Prachteinbände. Friedrich der Große bevorzugte rotes und grünes Ziegenleder, kaum eine Schlossbibliothek kam ohne Golddekor aus:

"Das hat sich natürlich Francke für seine Bibliothek nicht geleistet. Was man sehen kann – und das macht es wirklich interessant: nicht die Pracht, sondern was man für Bucheinbände verwendet hat, man hat ja auch Altmaterial gewissermaßen ausgeschlachtet. Man hat also alte Notenhandschriften und so etwas für Bucheinbände benutzt und so sind die einzelnen Bücher immer auch Dokumente mehrerer Schichten von Buchgeschichte."

Neben solch treffend inszenierten Einblicken ins Detail erweist sich aber auch der Blick aufs große Ganze, auf die Bibliothek insgesamt als Quell überraschender Erkenntnisse. Da stößt man etwa auf prächtig ausgemalte Architekturtraktate für die Erweiterung der Pariser "Mazarine", der erlesenen Büchersammlung des Kardinal Mazarin.

Und sieht: Während Könige und Kardinäle ihre Schätze unter himmelwärts strebenden Kuppeln präsentierten – als so genannte "Saalbibliothek" – blieben Bürger und Pastoren zwar bodenständiger, doch nicht weniger raumgreifend. Auch die Kulissenbibliothek in Halle strebt perspektivisch in die Weite, allerdings in der Horizontalen. Beide Bibliotheks- und Bautypen waren gleichermaßen angewiesen auf ein Katalogsystem, das über die physische Nachbarschaft der Bücher hinaus dem Wissbegierigen einen virtuellen Weg weist, ohne ihn allzu sehr einzuengen.

Schon Gabriel Naudé, der im 17. Jahrhundert die Bibliothek des Kardinal Mazarin aufbaute, hatte die Suche nach solch einem Ordnungssystem mit der Politik verglichen und vor allem eines gefordert: Toleranz. Die setzte sich durch, zumindest in der Bücherwelt, konstatiert Kurator Baumunk:

"Die Wiener Hofbibliothek wurde über Jahre und Jahrzehnte von einem Calvinisten geleitet. Also auch dort, im katholischen Milieu war man vergleichsweise offen, weil man wusste: man hinkt sonst einfach dem Standard hinterher. Deswegen sieht man hier weder konfessionelle noch in diesem modernen Begriff weltanschauliche Grenzen."

Nach 1800 bereiteten die Napoleonischen Kriege dieser harmonischen Bücherwelt ein Ende. Flucht und Emigration gingen einher mit "Bibliotheksverschiebungen". Neben Kunsträubern traten Glücksritter wie der falsche Baron Hüpsch oder der ehemalige Mönch Jean-Baptiste Maugérard auf den Plan. Sie schwatzten den von der Säkularisation bedrohten Klöstern kostbare Handschriften, Inkunabeln für einen Spottpreis ab.

Julius Hamberger dagegen, Mitarbeiter der vorbildlich geführten Göttinger Universitätsbibliothek, trat an, die Risse in der Bücherwelt zu kitten. In München sollte er beim Katalogisieren der in Süddeutschland massenhaft anfallenden Klosterbibliotheken helfen. Er verlor die Schlacht. Der Bibliothekar, so erfährt man im ebenso fakten- wie anekdotenreichen Katalog, starb 1813 im Irrenhaus. Das wohlgeordnete Bücherparadies war ihm zur Hölle geworden.


Service:

Die Ausstellung "Frühmoderne Bücherwelten. Die Bibliothek des 18. Jahrhunderts und das hallesche Waisenhaus" ist bis zum 7. Oktober in den Franckeschen Stiftungen zu Halle zu sehen.